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REVIEW FESTIVAL: „Kinds of Kindness“

Aberwitziger Triptychon von Yorgos Lanthimos, der den griechischen Goldener-Löwe-Gewinner erstmals in die hoffnungslosen USA der Gegenwart entführt. 

CREDITS: 
Land/Jahr: USA 2024, Laufzeit: 165 Minuten, Regie: Yorgos Lanthimos, Drehbuch: Yorgos Lanthimos, Efthimis Fillipou, Besetzung: Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Margaret Qualley, Hong Chau, Joe Alwyn; Verleih: Disney, Start: 04. Juli 2024

REVIEW:
Es ist nicht so, dass man diesen Yorgos Lanthimos unbedingt vermisst hat. Weil der Yorgos Lanthimos, der zuletzt in Venedig 2018 „The Favourite – Irrsinn und Intrigen“ und 2023 „Poor Things“ vorgestellt hat, Fantasmagorien jeweils nach Drehbüchern von Tony McNamara, ja auch nicht schlecht ist, um einmal schamlos zu untertreiben. Und doch freut man sich, den anarchischen und wilden und surrealen und Grenzen überschreitenden Yorgos Lanthimos wieder in die Arme schließen zu können, der mit den griechischen Arbeiten „Dogtooth“ und „Alps“ in die Elite des Weltkinos aufrückte und seinen ganz persönlichen Wahnsinn bereits 2015 mit „The Lobster“ und 2016 mit „Killing of the Sacred Deer“ im Wettbewerb von Cannes zelebrierte. 

Deutschland-Premiere: „Kinds of Kindness“ (Credit: Searchlight)

Gerade an letztgenannten schließt Lanthimos nahtlos an mit seiner dritten Zusammenarbeit in Folge mit der nunmehr zweifachen Oscargewinnerin Emma Stone (die auch in dem nächsten Film des Regisseurs wieder eine Hauptrolle spielt) und seine erste Arbeit mit ihr, die in den USA der Gegenwart angesiedelt ist. Ein scheußlicher und trostloser Ort, wenn man dem Tryptichon „Kinds of Kindness“ Glauben schenken darf, aber eben auch faszinierend und voller unerhörter, gegen den Strich gebürsteter Dinge. Drei Geschichten breitet der 165 Minuten lange Film aus, die jeweils mit denselben Schauspielern, allerdings als jeweils völlig neue Figuren erzählt werden, sozusagen eine Miniserie an einem Stück. Was auch schon das entscheidende Bindeglied ist, sieht man einmal von den einenden Titeln der jeweiligen Folgen ab: „Der Tod von R.M.F.“, „R.M.F. fliegt“ und „R.M.F. isst ein Sandwich“ heißen sie und enden jeweils mit einem eigenen kurzen Creditblock, in dem man die Rollennamen und Darsteller aufgeführt sieht: Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Margaret Qualley, Mamoudou Athie und Hong Chau sind jeweils dabei, in immer wieder neuen Anordnungen und Looks, sowie ein eher unbekannter Darsteller am Rande, der wohl besagter R.M.F. ist, wie man anhand des Monogramms auf seinem Hemd gleich zu Beginn der ersten Episode ablesen kann.

Diese erste Episode ist es auch, die die größten Ähnlichkeiten mit „Killing of the Sacred Deer“ aufweist, in dem Colin Farrell als wohlhabender Chirurg gezwungen wurde, eines der Mitglieder seiner Familie zu ermorden, und mit Sophies Entscheidung konfrontiert wird, welches es sein soll. Hier ist es Jesse Plemons, auf den Druck ausgeübt wird: In einem Brief seines Chefs wird sein genauer Tagesplan beschrieben, der damit endet, dass er besagten RMF mit seinem Auto töten soll. Als er beim ersten Mal versagt, wird ihm alles genommen, was sein Leben lebenswert gemacht hat. Seine Frau verschwindet, seinen Job ist er los, die Menschen wenden sich von ihm ab. Und doch ist dieser Auftakt mit seinem schockierenden Schluss eben nur der Auftakt, wird es gleich in der zweiten Episode noch bizarrer und surrealer.

Hier spielt Plemons einen Polizisten, dessen Leben aus der Bahn geraten ist, seitdem seine Frau Emily, gespielt von Emma Stone, nach einem Bootsunfall als verschwunden gilt. Als sie ausgezehrt, aber lebend auf einer Insel gefunden wird und wieder nach Hause kehrt, mehren sich bei ihm die Zweifel, dass diese Frau, die wirklich exakt so aussieht wie die seine, tatsächlich die echte ist: Sie hat andere sexuelle Vorlieben, mag Essen, dass ihr nie geschmeckt hat, und ihre Schuhe sind eine halbe Nummer zu klein. Was zu einer wahnwitzigen Eskalation führt, bei der in der Pressevorführung in Cannes durchaus auch kurze Schreie des Ekels zu hören waren. Emma Stone und Jesse Plemons stehen schließlich auch in der letzten Episode im Mittelpunkt, die auch die längste und wohl auch ungewöhnlichste ist, als Mitglieder einer von Willem Dafoe und Hong Chau angeführten Sekte, die nach einer Wunderheilerin suchen, die Tote zum Leben erwecken kann.

Thematisch sind die drei Episoden durchaus ineinander verzahnt, erzählen jeweils von Figuren, deren Alltag aus den Fugen geraten ist, die unter äußerem Druck gegen ihre innere Natur handeln müssen. Weniger handelt es sich um Kurzgeschichten, als vielmehr verwandte Situationen, die die Realität auf den Prüfstand stellen, Menschen in extremen Situationen und ihr Wesen auf den Prüfstand stellen – und tief in sich unerwartete Arten der Güte und Menschenliebe offenbaren. Ganz am Schluss erst, im allerletzten Moment, findet der Film seine Klammer, offenbart sich diese Ansammlung von Grausamkeiten und Entgleisungen als Lanthimos’ Variante von Dreyers berühmtem „Das Wort“. Da geschieht, ohne Scheiß, ein Wunder. Ganz am Anfang hört man über die Credits in voller Lautstärke „Sweet Dreams Are Made of This“ (und auf einen Schlag klatschte der Saal im Rhythmus mit): „Some of them want to use you / Some of them want to get used by you / Some of them want to abuse you / Some of them want to be abused“, singt Annie Lennox da. Und gibt das Thema dieses unnachgiebigen Films vor, an dessen Schluss Emma Stone ganz toll tanzt. Und R.M.F. ein Sandwich isst.

Thomas Schultze