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REVIEW CANNES: „Anora“

Sean Baker kehrt nach „Florida Project“ und „Red Rocket“ zurück mit einer modernen Aschenputtel-Geschichte über eine New Yorker Stripperin, die sich in einen russischen Oligarchen verliebt.

Sean Bakers „Anora“ (Credit: Festival de Cannes)

CREDITS:
Land/Jahr: USA 2024; Laufzeit: 138 Minuten; Regie, Drehbuch: Sean Baker; Besetzung: Mikey Madison, Yuriy Borisov, Mark Eydelshteyn

REVIEW:
Die letzten beide Male mussten noch Google Maps und Wikipedia nachhelfen, damit man sich als Außenstehender zurechtfinden konnte in den zutiefst authentischen Welten, die Sean Baker vor den Augen des Zuschauers entstehen ließ: Kissimmee in „The Florida Project“ von 2018, Texas City in „Red Rocket“ von 2021 – letzterer sein erster Film im Wettbewerb von Cannes und unverdient ohne Palme geblieben. Diesmal weiß man sofort, wo man ist. New York City. Und doch ist es nicht das New York City, das man gemeinhin kennt, sofern man sich nicht in der Welt der Stripschuppen und Bordelle zuhause fühlt (not that there’s anything wrong with it!) oder sich womöglich in der russischen Nachbarschaft rund um Coney Island auskennt. 

Weil Baker sich treu bleibt, wie schon in „Stardust“ und eben „Red Rocket“ wieder ein Herz hat für die Realität von Sexarbeitern, in diesem Fall von Stripperinnen, die als Animierdamen die Besucher des „HQ“ zu für sie lukrative Lapdances überreden. Nur eine schnelle Montage braucht „Anora“, begleitet von einem träumerischen Song von Take That, „Greatest Day“, um die Welt zu etablieren, in der wir uns die kommenden 135 Minuten bewegen werden, der entspannte, schlagfertige Umgang mit den Kunden, die Solidarität und Kumpanei unter den Frauen, von der einen oder anderen Rivalität einmal abgesehen. Anora, die sich selbst einfach nur „Ani“ nennt, gehört zu den Besserverdienerinnen im Haus. Sie ist schlagfertig, witzig, sexy, versteht ihr Handwerk und weiß, was die Männer wollen und wieviel davon sie ihnen geben kann: Look but don’t touch

So ist der attraktive junge Russe Ivan, der ihr vermittelt wird, weil sie russische Wurzeln hat und die Sprache versteht, erst einmal nur ein Job, ein Kunde, wie alle anderen auch. Aber die beiden verstehen sich, und Ani nimmt Ivans Einladung an, für bezahlten Sex mit ihm nach Hause zu kommen. Dass es sich dabei um eine riesige Villa handelt, die mit allen Schikanen ausgestattet ist, weil Ivan der enorm reiche Sohn eines russischen Oligarchen ist, der seine Zeit in Amerika verplempert, bis er von den Eltern in die Heimat zurückbeordert wird, verschlägt ihr nur kurz die Sprache. Dann setzt sich die Shotgun-Romance der beiden gegen Bezahlung fort und mündet in einen spontanen Trip mit Freunden nach Las Vegas, wo Ani und Ivan aus einer Laune heraus heiraten. Hatte man bisher den Eindruck, dass das Tempo hoch ist in dieser denkbar unromantischen Version einer romantischen Komödie, dieser subversiven Liebesgeschichte against all odds, sollte man sich besser anschnallen, denn „Anora“ schaltet jetzt in Overdrive, als die von Ivans Eltern eigentlich als Aufpasser abgestellten Männer spitzkriegen, was während ihrer Unachtsamkeit passiert ist. Es folgt eine verrückte, unberechenbare Reise ans Ende der Nacht, als hätten die Safdie-Brüder „Die Zeit nach Mitternacht“ neu interpretiert, als hätte Baker einfach den Screwballplot von Billy Wilders „Eins, zwei, drei“ auf den Kopf gestellt. 

Keine der Figuren ist einem übermäßig sympathisch, aber alle wachsen einem ans Herz im Lauf der Handlung, insbesondere die von Mikey Madison – eine der seltenen Profischauspielerinnen in Bakers Ensembles, die man aus „Scream“ und „Once Upon a Time in… Hollywood“ kennt – mit vollem Körpereinsatz und wenig Zurückhaltung immer auf die Zwölf gespielte Anora, die schrill, spitz, grell, aggressiv sein kann, weil man nur so weiterkommt in der Welt. Besonders gelungen ist dann nach den Verrücktheiten des Mittelteils das überraschend melancholische Ende, das noch einmal den Take-That-Song am Anfang unterstreicht. Irgendwie war es ein „greatest day“. Festgehalten in einem great film.

Thomas Schultze