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REVIEW CANNES: „Le deuxième acte“

Das 77. Festival de Cannes ist eröffnet. Als Eröffnungsfilm war „Le deuxième acte“ von Quentin Dupieux eine ungewöhnliche Erfahrung, die indes die Ausnahmestellung des für seine surreal-kuriosen Komödien bekannten Franzosen unterstreicht.

CREDITS:
Land/Jahr: Frankreich 2024, Laufzeit: 84 Minuten, Regie, Drehbuch: Quentin Dupieux, Besetzung: Léa seydoux, Vincent Lindon, Louis Garrel, Raphaël Quenard, Manuel Guillot: Verleih: kdV

Quentin Dupieux‘ „Le Deuxième Acte“ (Credit: Chi-Fou-Mi / Arte France Cinema)

REVIEW:
Dass Quentin Dupieux der Lucky Luke unter den Filmemachern des Weltkinos ist, hat sich herumgesprochen: Der ehemals unter dem Pseudonym Mr. Oizo bekannte Filmemacher filmt schneller als sein Schatten. Seit seinem Debüt „Steak“ vor 17 Jahren hat er 14 Spielfilme gedreht, fünf davon allein in den letzten beiden Jahren, zuletzt der hinreißend spinnerte „Daaaaali!“, der auf der Mostra in Venedig vom Stapel lief. Nun hielt er auch den Eröffnungsfilm des 77. Festival de Cannes bereit, sein zweiter Auftritt an der Croisette nach „Smoking Causes Coughing“, den er 2022 außer Konkurrenz gezeigt hatte und der gemäß der Statuten parallel zu seiner Weltpremiere auch offiziell in die französischen Kinos kam.

Es handelt sich um einen Schnellschuss, erst im Januar dieses Jahres in nur 14 Tagen gedreht, eine Petitesse, eine süße Nichtigkeit. Und doch irgendwie auch ein perfekter Eröffnungsfilm mit einer beneidenswert kurzen Laufzeit von knackigen 84 Minuten, eine Farce, die sich aufblättert wie eine Zwiebel und eine Metaebene nach der anderen einzieht, postmodern und modern zugleich, auf den Punkt, witzig und anspielungsreich. Nachdem man einen Mann sieht, der mit seinem Auto vorfährt und vor einem Restaurant namens „Le deuxième acte“ parkt, mitten im französischen Nirgendwo, seine Türen aufschließt und die Lichter anschmeißt, geht es zur vermeintlich eigentlichen Handlung: Eine junge Frau befindet sich auf dem Weg zu diesem Restaurant, wo sie ihren Verlobten ihrem Vater vorstellen will. Gleichzeitig redet besagter junger Mann einem guten Freund ins Gewissen, er solle die junge Frau verführen, weil sie einfach nicht sein Typ sei. Prämisse für eine schöne Familienfarce. Meet the parents und so.

Aber es handelt sich um einen Film von Quentin Dupieux, ein Meister des skurrilen Humors und des fortwährenden In-Frage-Stellens all dessen, was man als normal bezeichnen würde. Während man dem von Louis Garrel gespielten jungen Mann und seinem von Raphaël Quenard gespielten Freund bei einer endlos langen Plansequenz zusieht, fallen beide immer wieder aus ihren Rollen, machen deutlich, dass sie einen Film drehen und fangen an, nicht nur die Drehsituation und Handlung ihres Films zu kommentieren, sondern sich immer mehr über private Dinge zu unterhalten. Das Gleiche passiert bei einer ähnlich langen Einstellung mit Tochter und Vater, gespielt von Léa Seydoux und Vincent Lindon, die gleichermaßen wenig Rücksicht auf die Anforderungen eines Drehbuchs nehmen, das ohnehin niemand so recht zu verfilmen wollen scheint. Vielmehr beklagt Lindon einer genervten Seydoux gegenüber die Sinnlosigkeit der Schauspielerei angesichts all der dräuenden Katastrophen auf der Welt. Bis er einen Anruf erhält, Paul Thomas Anderson wolle ihn für seinen nächsten Film für eine Hauptrolle gewinnen. Ab da ist Schauspielerei wieder das Allergrößte.

Die beiden Parteien treffen einander im „Le deuxième acte“, die Schauspieler geraten in Streit, es kommt zu Handgreiflichkeiten, ein Kellner kann vor lauter Nervosität den Rotwein nicht richtig einschenken und flieht sich dann zu einer überraschenden Verzweiflungstat. Womit der Film aber seine letzte Volte noch nicht geschlagen hat, sich noch einmal komplett neu erfindet, auch KI noch eine Rolle spielt und sich dann in Wohlgefallen und einer weiterer Verzweiflungstat auflöst. Am Schluss gibt es einen Trackingshot an einem endlosen Dolly entlang, sozusagen die Mutter aller Trackingshots: Nimm das, künstliche Intelligenz! Auf eine solche Idee kommst du nicht. Nur Quentin Dupieux, dem wieder der Schalk im Nacken sitzt, der Hofnarr, der es sich erlauben kann, sich über die Egos von Schauspielern und Filmemachern lustig zu machen. Kein Meisterwerk, aber ein würdiger Start zum 77. Festival de Cannes. Wir haben sehr gelacht.

Thomas Schultze