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REVIEW KINO: „Mein Totemtier und ich“

Modernes Märchen für Kids über die Themen Identitätssuche und illegale Einwanderung.

CREDITS: O-Titel: Totem; Land/Jahr: Deutschland/Niederlande/Luxemburg 2022; Laufzeit: 96 Minuten; Regie: Sander Burger; Drehbuch: Bastiaan Tichler, Sander Burger; Besetzung: Amani-Jean Philippe, Ole van Hoogdalem, Lies Visschedijk, Emmanuel Ohene Boafo, Céline Camara, Kenneth Herdigein; Verleih: farbfilm verleih; Start: 6. Juni 2024

REVIEW:
Die elfjährige Ama (Amani-Jean Philippe) dachte immer, sie sei eine „ganz normale“ Niederländerin, abgesehen davon, dass sie ihre Adresse nirgendwo angeben darf und niemals mit der Polizei reden soll. Der Asylantrag ihrer Eltern, die vor elf Jahren aus dem Senegal nach Rotterdam gekommen sind, wurde abgelehnt, ihnen droht die Abschiebung. Als das Unaussprechliche dann tatsächlich passiert, ihre Unterkunft entdeckt wird, die Mutter (Céline Camara) und der kleine Bruder von den Behörden aufgegriffen werden und ihr Vater (Emmanuel Ohene Boafo) verschwindet, ist Ama plötzlich auf sich allein gestellt. Sie muss ihre Familie wiederfinden und sich gleichzeitig vor der Polizei verstecken, insbesondere vor der Polizistin Paula (Lies Visschedijk), der Mutter ihres besten Freundes Thijs (Ole van Hoogdalem), der ihr unbedingt helfen will.

„Mein Totemtier und ich“ wurde u. a. beim Filmfest Hamburg gefeiert (Credit: farbfilm verleih)

Glücklicherweise ist Ama doch nicht so gewöhnlich, wie sie glaubte: Auf ihrer Odyssee durch das nächtliche Rotterdam steht ihr unverhofft ein ungefähr sieben Quadratmeter großes, freundlich grunzendes Stachelschwein zur Seite. Der obdachlose Kuyaté (Kenneth Herdigein) entpuppt sich als Griot, als Geschichtenerzähler aus der Heimat ihrer Eltern, der sie darüber aufklärt, dass es sich bei ihrem beharrlichen neuen Begleiter um ihr Totemtier handelt, das aufgetaucht ist, um sie zu beschützen. Bislang hatte Ama kein Interesse an ihren senegalesischen Wurzeln, nun fragt sie sich, warum ihre Eltern ihr diese bislang vorenthalten haben – und wer sie wirklich ist.

Mit wundersamer Leichtigkeit und viel Feingefühl verbindet der niederländische Drehbuchautor und Regisseur Sander Burger („The Judgement“, „Ich bin Alice“), selbst geboren an der Elfenbeinküste, afrikanische Mythologie, Asylpolitik und Coming of Age. Sein Film hält kluge Antworten auf schwierige Fragen bereit und öffnet nicht nur Kindern die Augen für unbequeme Wahrheiten – und für ein überdimensionales Stachelschwein. Dafür kamen keine digitalen Effekte zum Einsatz, Animatronik gibt dem Ganzen einen surrealistischen Charme, der die dramatische Seite des Films zugänglich macht. Genauso fantastisch ist das Casting der jungen Amani-Jean Philippe in der Rolle der unerschrockenen und besonnenen Ama. Ihre Identitätssuche wird perfekt begleitet von Kamera und Szenenbild, die die zwei Welten, zwischen denen sie schwankt, jeweils in kühle Blau- oder warme Brauntöne tauchen, und von der Musik des französischen Komponisten Amaury Laurent Bernier mit dem südafrikanischen Cape Philharmonic Orchestra. Ein wunderschöner, hoffnungsvoller Film, der mal wieder beweist, dass Erwachsene häufiger auf ihre Kinder hören sollten. Oder auf ihr Herz. Oder auf ihr Totemtier. 

Corinna Götz