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REVIEW KINO: „Kleine schmutzige Briefe“

Hintergründige Komödie mit Olivia Colman und Jessie Buckley über anonyme Briefe voller Beleidigungen, die den Frieden in einem konservativen Küstenstädtchen im England der 1920er-Jahre strapazieren.

CREDITS:
Land/Jahr: Großbritannien, Frankreich 2023; Laufzeit: 100 Minuten; Regie: Thea Sharrock; Drehbuch: Jonny Sweet; Besetzung: Olivia Colman, Jessie Buckley, Anjana Vasan, Timothy Spall, Hugh Skinner, Malachi Kirby, Gemma Jones; Verleih: Studiocanal; Start: 28. März 2024

REVIEW: 
Natürlich fällt einem erst einmal das auf, was dem Film seinen Titel gegeben hat: die kleinen schmutzigen Briefe. Zunächst landen sie nur im Briefkasten der puritanischen Familie Swan in einer kleinen englischen Gemeinde am Meer in der Grafschaft Sussex  in den frühen Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Der ehemalige Offizier Edward Swan – gespielt von Timothy Spall – führt als Familienoberhaupt ein strenges Regiment, ein Herr des Hauses von altem Schrot und Korn, unter dessen Fittiche die eingeschüchterte Ehefrau und deren verklemmte Tochter Edith nicht viel zu melden haben. Die Briefe sind wie Dolchstiche ins Herz ihrer erzkonservativen Existenz. Sie sind gespickt mit kuriosen Beleidigungen wie „piss-country whore“ oder „foxy-assed rabbit-fucker“, die klingen wie Beschimpfungen aus der Feder eines Menschen, der es nicht gerade gewohnt ist, mit Flüchen um sich zu werfen. 

Jessie Buckley und Olivia Colman Seite an Seite in „Kleine schmutzige Briefe“; Foto: Studiocanal

Weshalb es gleich abwegig scheint, dass die freigeistige und freilebige neue Nachbarin der Swans als Verdächtige überhaupt in Erwägung kommt, Rose, eine Naturgewalt, die der Gemeinde sichtlich ein Dorn im Auge ist als zugereiste und alleinerziehende Irin, die trinkt wie ein Fisch und flucht wie ein Kutscher und obendrein noch in wilder Ehe mit einem Schwarzen zusammenlebt und die Nachbarschaft allnächtlich lautstark an ihren Orgasmen Anteil haben lässt – Jessie Buckley muss sich schauspielerisch nicht unbedingt strecken in einer Variation ihrer Rolle aus „Wild Rose“, hat aber allemal sichtlich Spaß mit der Figur. Die ungelenken Flüche in den Briefen, die alsbald auch andere Honoratioren des Städtchens geschickt bekommen, lesen sich doch eher wie Hilferufe, kleine Akte des Widerstands in einem Leben, dessen enges Korsett Frauen allzu selbstgerecht die Luft zum Atmen raubt. Wer nach fünf Minuten noch nicht gerafft haben sollte, wer der wahre Urheber der aberwitzigen Verbalinjurien ist, der wird wohl auch nicht erkennen, dass Olivia Colman ihr Porträt der spröden Jungfer Edith bewusst völlig over the top angelegt hat, sozusagen als reverse Begleit-Performance zu ihrem grellen Auftritt als Cockney-Hexe in „Wonka“: Mehr theatralisches Wimpernflattern geht nicht. 

Man liegt sicher nicht falsch, wenn man die eigentliche Geschichte des realen Skandals um die unflätigen Briefe, der kurze Zeit angeblich das ganze Königreich den Atem anhalten ließ, als genussvollen McGuffin begreift, eine falsche Fährte, die das Publikum unterhält und schmunzeln lässt fast im Stil von britischem Bauerntheater, ganz in der Tradition der marktschreierischen „Carry on“-Komödien aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Im Bemühen, einen modernen Zugang zu der beschwingten Grille zu finden, betont Comedian Jonny Sweet in seinem Debüt als Drehbuchautor die toxische Ungerechtigkeit eines zutiefst patriarchalischen Systems, in dem nicht nur die beiden Hauptfiguren unter den Launen inkompetenter Männer zu leiden haben, sondern auch die indischstämmige erste Polizeibeamtin der Gemeinde, die sich letztlich gegen die expliziten Anordnungen ihrer selbstgefälligen Vorgesetzten auf eigene Faust und mit Hilfe anderer Damen in dem Örtchen, verlacht und gegängelt allesamt, daran macht, die wahren Hintergründe aufzudecken. 

Das würde bemüht und stellenweise unangenehm revisionistisch wirken, voller historischer Patzer, wenn nicht Regisseurin Thea Sharrock so bewusst übermäßig beschwingt inszenieren würde. Sie weiß, dass ihr Film einem Publikum im Hier und Jetzt Spaß machen soll als Parabel auf einen vergifteten gesellschaftlichen Diskurs mit Hate-Mails und derben Beleidigungen in den sozialen Netzwerken. Aber das ist alles so offensichtlich und platt, dass es einer so renommierten Theaterregisseurin, die im Kino mit ihrem Debüt „Ein ganzes halbes Jahr“ aus dem Jahr 2016 einen RomCom-Überflieger (2,4 Mio. Ticketverkäufe in den deutschen Kinos!) hinlegte, eigentlich unwürdig ist. 

Kann es sein, dass sich hinter dem Schwank über die Solidarität der Frauen ein weiterer Film versteckt? Besonders gelungen erscheint mir „Kleine schmutzige Briefe“ nämlich in seinen ernsten Momenten, wenn er erzählt von der anfänglichen Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Hauptfiguren, wie sich Edith und Rose ganz natürlich annähern, wie der natürlich ausgelebte Freiheitsdrang der einen der anderen eine Alternative zu einem vorbestimmten Leben in viktorianischer Enge aufzeigt: Die Momente mit Jessie Buckley und Olivia Colman am Strand haben eine Vitalität und Energie, die den muffigen Innenaufnahmen, aber auch dem angestrengten Whodunnit-Plot komplett abgehen. Sie machen klar, dass „Kleine schmutzige Briefe“ vor allem eine Tragödie ist, die Geschichte der Unmöglichkeit einer Freundschaft und vielleicht sogar aufkeimenden Romanze, die nicht sein darf, im England vor 100 Jahren schon gleich gar nicht.

Thomas Schultze