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REVIEW KINO: „One Life“

Hochemotionales Drama mit Anthony Hopkins als Nicky Winton, der vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 669 vornehmlich jüdische Kinder vor dem sicheren Tod retten konnte.

CREDITS:
O-Titel: One Life; Land/Jahr: Großbritannien 2023; Laufzeit: 109 Minuten; Regie: James Hawes; Drehbuch: Lucinda Coxon, Nick Drake; Besetzung: Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helena Bonham Carter, Alex Sharp, Romola Garai, Lena Olin; Verleih: SquareOne; Start: 28. März 2024

REVIEW:
Als er 2015 im biblischen Alter von 106 Jahren starb, war Nicky Winton ein weltweit gefeierter Held, ein Mann wie Oskar Schindler, dem es mit seinem selbstlosen Einsatz und unter zunehmend größerer Gefahr für sein Leben zu verdanken war, dass vor Beginn des Zweiten Weltkriegs 669 vornehmlich jüdische Kinder vor dem sicheren Tod gerettet werden konnten. Ebenso unglaublich ist, dass er 50 Jahre geschwiegen hatte: Wenn er 1988 nicht für eine Folge der Reihe „That’s Life“ in ein Fernsehstudio der BBC gelockt worden wäre, wo ihn zahlreiche der längst erwachsenen Kinder erwarteten und feierten, die ihren Retter nie kennengelernt hatten, hätte er seine heldenhaften Taten wohl mit sich ins Grab genommen. Nach verschiedenen Büchern, darunter „If It’s Not Impossible“ von Wintons Tochter Barbara, das als Vorlage für das Drehbuch von Lucinda Coxon und Nick Drake diente, Dokumentationen und diversen Fernsehbeiträgen folgt nun der überfällige Film, nur ein Bruder im Geiste von „Schindlers Liste“, weil doch ganz anders als Steven Spielbergs klassischer Film über den Holocaust. 

Anthony Hopkins erwartet in „One Life“ eine große Überraschung (Foto: SquareOne)

Wie Sir Nicholas Wynton selbst ist der Film bescheiden und zurückhaltend, macht keines großen Aufhebens um sich. Wenn man das liest, klingt es vermutlich nicht besonders aufregend. Aber tatsächlich ist das die Stärke des Spielfilmdebüts des erfahrenen Fernsehregisseurs James Hawes, der gerade erst gefeiert wurde für seine Arbeit an der Apple-Vorzeigeserie „Slow Horses“. Es ist ein Film, der weiß, dass er eine Geschichte erzählt, bei der man nichts aufschäumen oder überdramatisieren muss, um am Ende eine emotionale Wucht zu entfalten, der man sich als Zuschauer unmöglich entziehen kann. Einfach nur bei den Figuren bleiben, bei den Schauspielern, ihnen zusehen, wie sie zahllose Klippen umschiffen und Hürden nehmen, immer wieder aufs Neue ungeahnte Probleme aus dem Weg schaffen, mit einem einzigen Ziel: Menschenleben zu retten. Und dabei Erfolg zu haben, wo andere scheitern. 

Klug folgt „One Life“ zwei parallelen Handlungssträngen. Er beginnt im Jahr 1988, als Nicky Winton noch ein Niemand war, 79 Jahre alt und völlig ungewöhnlich. Anthony Hopkins glaubt man diesen anständigen Mann und Familienvater sofort, ohne dass er sich anstrengen müsste. Obwohl man ihn in zahllosen Filmen gesehen hat bereits, ist er Nicky Winton vom ersten Moment an, an dem Moment, an dem sich sein Leben für immer verändert, weil er erstmals denen gegenüberstehen wird, die es ohne ihn nicht mehr gäbe. Schnell wird ein zweites Narrativ ausgebreitet, 1938, Nicholas Winton ist, von Johnny Flynn in einer für ihn ungewöhnlichen Rolle überzeugend gespielt, 29 Jahre alt. Er befindet sich auf Urlaub in Tschechien und wird dort aufmerksam auf die zahllosen Menschen, die kurz vor Hitlers Einmarsch flüchten wollen, es aber nicht können. Er will etwas unternehmen, sammelt Namen, um Kinder zunächst nach Prag und dann mit dem Zug nach England zu bringen. Wie in Anna Wingers viel zu wenig wahrgenommener Serie „Transatlantic“ geht es um einen Trupp von Mitstreitern, hier versammelt von Nicky Winton, darunter seine von Helena Bonham-Carter mit viel Pepp gespielte Mutter. Wie in „Schindlers Liste“ ist die Hauptfigur gebrochen, weil es ihr nicht gelingt, mehr Menschenleben zu retten: Ein letzter Zug mit 250 Kindern an Bord kann nicht abfahren, weil der Krieg beginnt. 

Das nimmt einen mit. Man ist tatsächlich für die Contenance der Erzählung und die bedachte Wahl der künstlerischen Mittel dankbar, allen voran der Score des deutschen Oscargewinners Volker Bertelmann, der so ganz anders ist wie seine weltweit gefeierte Arbeit an „Im Westen nichts Neues“. Man ist einfach hautnah mit dabei, man empfindet mit dem Mann, der am liebsten geschwiegen hätte, weil es ihm selbstverständlich war, sich für andere einzusetzen und sich danach nicht im Rampenlicht zu sonnen. Und der dann doch von Königin Elisabeth II geadelt und weltweit gefeiert wurde. Es ist ein Film, der weiß, wie Nicky Winton denken und fühlen würde. Und der deshalb goldrichtig ist, wie er ist. 

Thomas Schultze