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REVIEW KINO: „Ein kleines Stück vom Kuchen“

Iranische Tragikomödie mit emotionaler Wucht und politischer Brisanz über eine einsame Witwe auf der Suche nach einem Liebhaber 

CREDITS:
O-Titel: My Favourite Cake; Land/Jahr: Iran, Frankreich, Schweden, Deutschland 2024; Laufzeit: 96 Minuten; Drehbuch: Behtash Sanaeeha, Maryam Moghaddam; Regie: Maryam Moghaddam, Behtash Sanaeeha; Besetzung: Lily Farhadpour, Esmail Mehrabi; Verleih: Alamode Film; Start: 11. Juli 2024

REVIEW:
Man wünscht ihr auf der Stelle alles Liebesglück der Welt: Hinter ihrer vornehmen, schüchternen Zurückhaltung verbirgt die 70-jährige Mahin (Lili Farhadpour) einen hinreißenden, entwaffnenden Humor und eine rührende Aufrichtigkeit – wenn es die Situation erlaubt. Die ehemalige Krankenschwester lebt als Witwe allein in ihrem Haus in Teheran, mit wehmütigen Erinnerungen an eine Ära, in der junge Frauen statt Hidschab und Turnschuhen tiefe Ausschnitte und hohe Absätze trugen und im Bikini an den Strand gingen. Mit dem repressiven politischen System kann sich Mahin genauso wenig anfreunden wie mit der Einsamkeit. Ihre monotone Alltagsmelancholie wird bestimmt von Einschlaf- und Aufstehproblemen, Gartenarbeit und gelegentlichen Facetime-Anrufen von ihrer Tochter und den Enkelkindern, die das Land schon vor Längerem verlassen haben. Einmal im Jahr kommen ihre „alten Mädels“ zu Besuch, um sich beim Nachmittagstee über Inkontinenz lustig zu machen, Videos von ihrer Darmspiegelung zu präsentieren, und sich zu fragen, wo man heutzutage noch einen Mann kennen lernen kann, wenn schon der Gedanke an einen unehelichen Flirt ein Sittenverstoß ist und öffentliches Leben sowieso nicht stattfindet. Mahin beschließt dennoch, dass sie sich die längste Zeit die Fingernägel nur zum Fernsehen lackiert hat – und begibt sich auf die Suche nach einem Liebhaber. 

Nach vergeblichen Bemühungen in der Warteschlange einer Bäckerei, in einem menschenleeren Park, in dem ihr verstorbener Mann früher mit Freunden Sport getrieben hat, und in der ehemals geselligen Lobby eines Luxushotels, das nun einen durchdigitalisierten Coffeeshop beherbergt, findet sie tatsächlich einen geeigneten Partner in einem Rentner-Restaurant: Faramarz (Esmail Mehrabi) ist Taxifahrer, sympathisch, geschieden, ein Militärveteran in ihrem Alter, der ihre unabhängige Gesinnung und ihren Sinn für Humor teilt und nichts dagegen hat, dass sie zu ihm ins Auto steigt, auf dem Beifahrersitz Platz nimmt, und fragt, ob er noch mit zu ihr kommen möchte. Im Laufe eines Abends nähern sie sich einander an, zuerst unbeholfen, dann beschleunigt durch die Flasche Wein, die sie seit Jahren versteckt hat. Sie reden über die guten alten Zeiten vor dem Alkoholverbot, sie verbindet die Sehnsucht, am Ende ihres Lebens nicht allein sein zu müssen, und sie haben genug von der Unterdrückung, an die sie prompt die Nachbarin erinnert, deren Mann für die Sittenpolizei arbeitet. Heimlich, versteckt hinter dem Gartenzaun, stoßen Mahin und Faramarz auf ihre Gesundheit an, als hätten sie nichts zu verlieren, sie tanzen zu großartiger, vorrevolutionärer Musik, schmieden Pläne für die nächsten Tage und alle danach – und Mahin backt ihren Lieblingskuchen, den sie immer mit der Hoffnung verbunden hat, ihn irgendwann einmal mit jemandem teilen zu können. 

Die ungehörige Schockverliebtheit, mit der die Protagonisten spontan ihre Herzen füreinander öffnen, ist auf anrührende Weise absurd und trotzdem nachvollziehbar angesichts ihres jahrzehntelangen Alleinseins und in einer Gesellschaft, in der Männer und Frauen üblicherweise an getrennten Tischen sitzen. Es ist eine wunderschöne und mutige Performance der beiden Schauspieler, die sich gegenseitig zum Strahlen bringen, den Altersgebrechen und Schwächen ihrer Figuren mit größter Zärtlichkeit begegnen und jeden Moment dieses Zusammenspiels ebenso zu genießen scheinen wie ihre Charaktere. Das Filmemacherpaar Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam hat seine Tragikomödie, die sich vordergründig mit dem Thema Einsamkeit beschäftigt, raffiniert mit Regimekritik gespickt, die weniger zornig und radikal formuliert ist als etwa in Mohammad Rasulofs Drama „The Seed of the Sacred Fig“, das in Cannes für Furore sorgte. Sie zeigen dennoch eindringlich, wie das System nicht nur über moralische Grundsätze wacht, sondern persönliche und menschliche Bedürfnisse unterdrückt, und dass jede Schilderung des Alltagslebens im Iran, insbesondere von Frauen, zwangsweise politisch ist. Die Szene, in der sich Mahin der Polizei widersetzt und ein junges Mädchen verteidigt, das wegen ein paar Haarsträhnen verhaftet werden soll, dürfte Grund genug gewesen sein, dass die Regisseure ein ähnliches Schicksal ereilte wie viele andere Künstler ihres Heimatlandes. Bei der gefeierten Weltpremiere bei der Berlinale in diesem Jahr fehlten Sanaeeha und Moghaddam, die bereits während der Produktion des Films ins Visier der Behörden gerieten. Schon deshalb ist es nur konsequent, dass auch Mahin und Faramarz am Ende von der Realität eingeholt werden: Die schockierende und erschütternde Wendung der Geschichte verdeutlicht, dass hier selbst der Traum vom Glück nicht ungestraft bleibt – you can’t have your cake and eat it.

Corinna Götz