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José Luis Rebordinos zu San Sebastián 72: „Ich freue mich: ein sehr starkes Jahr!“

Noch bis 2026 wird José Luis Rebordinos der Direktor des San Sebastián International Film Festival sein, dann will er in gut bestelltes Haus hinterlassen. Aber jetzt freut er sich erst einmal auf einen Jahrgang, den er für einen der besten überhaupt hält, wie er im Interview mitteilt. Heute Abend geht’s los mit der Weltpremiere von „Emmanuelle“. 

San-Sebastián-Festivalchef José Luis Rebordinos (Credit: SSIFF)

Ein Blick aufs Programm sagt einem: ein außergewöhnlich gutes Jahr für San Sebastián. Fühlte sich die Auswahl diesmal anders an?

José Luis Rebordinos: Ich könnte nicht sagen, dass für uns irgendetwas anders gewesen wäre. Für uns ist die Arbeit immer gleich. Was sich ändert, ist das Angebot, sind die damit verbundenen Möglichkeiten. Für uns bedeutet das in diesem Jahr, dass ungewöhnlich viele große Namen in diesem Jahr im Line-up zu finden sind und mehr namhafte Regisseure im Hauptwettbewerb antreten. Ich vermute, das hängt damit zusammen, dass in diesem Jahr nach den beiden Streiks in Hollywood insgesamt mehr Produkt und somit auch mehr hochkarätiges Produkt zur Verfügung steht. Wir zeigen viele Filme. Manche liefen schon in Cannes oder in Venedig, manche sieht man erstmals in San Sebastián. Weltpremieren sind keine Voraussetzung, kein Zwang. Aber wenn man sie haben kann, sage ich nicht nein. Im Wettbewerb ist mir die Ausgewogenheit am wichtigsten. Es ist gut, dass wir Namen haben wie Joshua Oppenheimer, Mike Leigh oder Edward Berger. Wichtig ist mir aber, dass auch neue Gesichter dabei sind, Entdeckungen. Und in diesem Jahr ist die Balance ausgezeichnet. Das freut mich. 

Es liest sich jedenfalls schon einmal sehr spannend und vielversprechend.

José Luis Rebordinos: Ebenso wichtig ist mir aber noch etwas anderes: Wir veranstalten zum dritten Mal die Investors Conference. Wir verstärken unsere Industrie-Aktivitäten. Wir wollen ein Festival sein, das die Filmkunst feiert. Das steht im Vordergrund. Aber wir verstehen auch, dass Filme nicht im luftleeren Raum entstehen. Es ist ein Geschäft. Dem muss man Rechnung tragen, wenn man relevant bleiben will. Auf Sicht wird man die richtigen Filme nur bekommen, wenn man auch für die Industrie wichtig ist und wahrgenommen wird. Da sind wir auf einem guten Weg. Und auch hier gilt: Auf die Balance kommt es an. Ich denke, das bekommen wir ganz gut hin. 

José Luis Rebordinos bei der Programmpräsentation (Credit: SSIFF)

Wie waren die Rückmeldungen nach den ersten beiden Jahren der Investors Conference?

José Luis Rebordinos: Sehr gut. Sie müssen verstehen, dass ein Markt für San Sebastián nicht in Frage käme. Wir sind eine kleine Stadt mit einer begrenzten Anzahl an Hotelbetten. Ein Markt würde unsere Kapazitäten sprengen. Das müssen Berlin, Cannes und Toronto machen. Wir nicht. Wir wollen aber trotzdem die Branche vor Ort haben, wichtige Leute aus der Industrie. Wir versuchen das mit verstärkten Industrieaktivitäten mit der Investors Conference im Zentrum. Das funktioniert sehr gut, wird sehr geschätzt. Uns geht es um Qualität, nicht Quantität. 

Die Jahre seit 2020 waren hart für die Filmindustrie – aber auch für die internationalen Festivals. Erst die Pandemie, dann im letzten Jahr die Streiks. Liege ich recht mit meiner Vermutung, dass 2024 erstmals wieder ein Jahr ist, mit dem man an die Zeit vor Corona anknüpfen kann, an 2019?

José Luis Rebordinos: Die Pandemie war ein Albtraum. Für uns alle. Alles hat sich verändert. Alles. Wir mussten mit dem Festival reagieren, um es überhaupt weiter durchführen zu können. Wir haben an den Stellschrauben gedreht, viel verändert. Manche dieser Veränderungen haben wir beibehalten, weil sie sich als wertvoll erwiesen und sich bewährt haben. Wegen Corona haben wir Tickets mit festen Platzreservierungen eingeführt. Das machen wir weiterhin, weil es eine gute Veränderung war, die sich auf die gesamte Logistik und Terminierung ausgewirkt hat. Andere Dinge haben wir hinter uns gelassen und teilweise schon wieder vergessen. Es war eine wichtige Phase des Lernens. Wir profitieren davon, während wir feststellen, dass sich das Festival mehr und mehr wieder den annähert, was es davor gewesen war. Und damit meine ich auch das Publikum: In diesem Jahr werden wir wohl wieder Zahlen schreiben wie in der Zeit vor der Pandemie. Das ist kein Pappenstiel, weil wir durch harte Zeiten gehen. Der Krieg in der Ukraine, die hohe Inflation in Spanien, jetzt zusätzlich der Krieg in Gaza. Aber wir behaupten uns und bieten den Menschen in dieser Zeit auch eine Ausflucht. Das ist gut, das ist auch eine der Aufgaben des Kinos. 

San Sebastián macht sich bereit für Ausgabe 72 (Credit: SSIFF)

Lassen Sie mich noch einmal auf die Weltpremieren oder großen internationalen Premieren zurückkommen, mit vielen großen Namen, die man beispielsweise in Cannes oder Venedig erwartet hatte, die man nun aber in Ihrem Programm findet – Audrey Diwan, Albert Serra, François Ozon, Johnny Depp…

José Luis Rebordinos: Wenn Cannes oder Venedig sagen, dass sie einen Film wollen, dann wird er in der Regel dort seine Weltpremiere feiern. Damit habe ich aber kein Problem. Es ist für mich nicht entscheidend, mich mit Weltpremieren zu schmücken. Ich will gute Filme zeigen. Im Grunde hängt alles vom Wohlwollen der Verleiher und Weltvertriebe ab. Aktuell mögen uns die Verleiher und Weltvertriebe. Das ist gut für uns. Sehen Sie sich „Emmanuelle“ von Audrey Diwan. In Frankreich wird er am 25. September ins Kino kommen. Da bot sich eine Weltpremiere eine Woche davor bei uns an. Sie haben sich über einen Start im Wettbewerb gefreut. Andere Male reicht einfach nur ein Auftritt im Festival, letztes Jahr haben wir „Der Junge und der Reiher“ von Hayao Miyazaki außer Konkurrenz gespielt, und der Verleih war damit sehr glücklich. Oder nehmen wir „Modi“ von Johnny Depp – Johnny Depp ist ein enger Freund des Festivals. Er wollte, dass sein Film – überhaupt erst seine zweite Regiearbeit! – bei uns läuft. Was ich sagen will: Jeder Film ist sein eigener Fall. Da bin ich sehr entspannt.

Aber bringt Ihnen eine Weltpremiere nicht mehr Presse?

José Luis Rebordinos: In Spanien schon. Aber ich habe das nicht nicht in der Hand. Ich kann unser Festival anbieten und für uns werben. Aber wenn ein Produzent sagt, er will erst nach Telluride und Toronto – wie zum Beispiel „Konklave“ oder „The End“ – und dann nach San Sebastián, dann bin ich genauso glücklich. Wenn ein Film findet, wir sind gut für ihn, dann ist das gut für uns. Wir arbeiten für die Filme, die wir zeigen. Wenn ein Film erst in Venedig war und dann zu uns kommen will und wir ihn gut finden, warum nicht? Man darf sich nichts vormachen. Wenn ein Produzent denkt, dass es ihm helfen wird, wenn sein Film bei uns läuft, dann wird er bei uns laufen wollen. Und vielleicht noch auf einem oder mehreren Festivals. 

Kurz vor Start: San Sebastián 72 (Credit: SSIFF)

San Sebastián war immer schon eine wichtige Plattform für das spanische, bzw. das spanischsprachige Kino. In diesem Jahr sieht das Line-up auch in diesem Hinblick vielversprechend aus. 

José Luis Rebordinos: Für mich – und ich bin ein alter Mann und habe schon viele Jahrgänge miterlebt – ist es der beste Moment im spanischen Kino, an den ich mich erinnern kann. Keine Frage. Warum? Es gibt viele Filme, die Bandbreite ist sehr groß, die Filme sind alle sehr unterschiedlich. Und vor allem: Die Filme sind gut. Sehr gut. Auf allen großen Festivals laufen mittlerweile spanische Filme. Cannes, Locarno, Venedig, Toronto. Das ist gut für uns, gut für die Industrie. Wir haben in diesem Jahr vier spanische Filme im Wettbewerb, alle grundverschieden. „Tardes de soledad“ von Albert Serra ist ein Dokumentarfilm über Stierkampf. „Soy Nevenko“ von Icíar Bollaín ist ein sehr politischer Film, befasst sich mit Korruption. „El Llanto“ von Pedro Martin-Calero ist ein Horrorfilm. Und der letzte spanische Film im Wettbewerb, „Los destellos“ von Pilar Palomero ist ein Melodram über die letzten Tage im Leben eines Mannes, der seine Fehler wieder gutmachen will. Ich bin sehr stolz auf diese Auswahl, weil sie unterstreicht, wie lebendig und vielfältig das spanische Kino ist. Und dann darf man nicht vergessen, dass wir auch noch Pedro Almodóvars „The Room Next Door“ zeigen, den Gewinner von Venedig – ein spanischer Film!

Wie sehen Sie das San Sebastián International Film Festival generell? Sind Sie zufrieden?

José Luis Rebordinos: Wir stehen gut da. Ich habe die Organisation neu aufgestellt. Wir haben den Industrie-Aspekt verstärkt. Früher waren wir ein Festival, das neun Tage gedauert hat. Heute findet das Festival rund ums Jahr statt, mit den neun Tagen in San Sebastián als Zentrum. Wir arbeiten mit der lokalen Filmschule und sind da durchgängig aktiv. Wir organisieren fortwährend Events in San Sebastián und haben immer gut zu tun. Ich habe zwei Vizedirektoren an meiner Seite, einer für das Festival im September, einer für die Arbeit rund ums Jahr. Ich habe meinen Chefs mitgeteilt, dass 2026 mein letztes Jahr als Festivaldirektor sein wird. Ich werde ein gut bestelltes Haus hinterlassen. Und alle weiteren neuen Dinge wird mein Nachfolger angreifen müssen. Aber natürlich werde ich ihm gerne dabei behilflich sein, wenn ich das kann. 

Das Gespräch führte Thomas Schultze.