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Tim Evers zu „Angela Merkel“: „Den Weg für jüngere Zielgruppe nachzeichnen“

Regisseur Tim Evers bringt mit seinem Gespür für Zeitgeschichte, Musik und auch mal andere politische Beobachter einen frischen Blick auf die ehemalige Bundeskanzlerin in der Doku-Serie „Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“, die es jetzt in der ARD-Mediathek gibt. SPOT sprach mit ihm darüber.

Angela Merkel - Schicksalsjahre einer Kanzlerin
Der Angela-Merkel-Gaze und Filmemacher Tim Evers (Credit: rbb/SWR/MDR/Looksfilm/privat)

Seit dem 8. Juli gibt es in der ARD-Mediathek die sehenswerte Doku-Serie „Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ von Tim Evers. Im Ersten läuft das aufwendige Projekt von rbb, NDR, SWR und Looksfilm am 15. Juli um 22.30 Uhr.

Über die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde schon jede Menge geschrieben und gefilmt, viele Porträts entstanden. War Ihnen deshalb auch ein frischer Blick auf das Sujet wichtig?

Tim Evers: Es war Teil des Auftrages, den Weg Angela Merkels auch gerade für eine jüngere Zielgruppe nachzuzeichnen. Damit einher geht, Menschen sprechen zu lassen, die teils zu dieser ‚Generation Merkel‘ gehören und sich gar nicht mehr an die vorherigen Bundeskanzler erinnern können. Natürlich brauchten wir ebenso Weggefährten und Kontrahenten, um in Konflikte reinzugehen und den Aufstieg nachzeichnen zu können. Die Biografie aus diesen beiden Perspektiven einzufangen, war die Aufgabe.

Wonach sind die Repräsentanten der jüngeren Generation ausgesucht, die Angela Merkel kommentieren? Persönlichkeiten wie Samira El Ouassil, Le Floid, Tilo Jung oder Marina Weisband kennt man nicht nur, aber doch hauptsächlich aus dem Internet.

Tim Evers: Für jeden Beteiligten gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Marina Weisband zum Beispiel war für uns aufgrund ihres biografischen Hintergrunds interessant: in der Ukraine geboren, äußert sie sich seit 2014 exponiert zu diesem Thema in der Öffentlichkeit, kennt die Hintergründe gut und hat zugleich selbst eine Politikerfahrung bei der Piratenpartei. Diese Partei spielt bei uns keine große Rolle. Aber an ihrem Aufstieg damals wurde auch eine Lücke in den Merkel-Jahren und eine Sehnsucht nach einer anderen politischen Kraft deutlich. Le Floid war der erste YouTuber, der Angela Merkel im Jahr 2015 interviewte, vielleicht von ihr auch bewusst als Sprachrohr benutzt werden sollte. Damals war er nicht besonders politisch profiliert, aber dann in seinen späteren Jahren jemand, der sich für seine Zielgruppe klug mit Politik auseinandersetzt. Tilo Jung und Samira El Ouassil sind kluge Beobachter. Gerade auch, was Samira über die öffentliche Wirkung von einer Person wie Angela Merkel zu sagen hat, ist interessant. Wie sie zum Beispiel den Satz „Wir schaffen das“ in Folge vier der Doku-Serie spannend auseinandernimmt.

Sie betonen, dass bei Ihrem Doku-Projekt „Angela Merkel – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ der jüngere Blick explizit aus der ARD gewünscht war. Mit wem standen Sie da besonders im Austausch? 

Tim Evers: Das Ganze ist ein groß angeschobenes Projekt. Es gab drei federführende Redaktionen beim rbb, NDR und SWR. Dort lag das Projekt zusammen mit der Produktionsfirma Looksfilm und war praktisch durch fast alle Instanzen durch, als ich im vergangenen Herbst dazukam. Zu diesem Zeitpunkt war der Auftrag bereits klar umrissen, dass man ergänzend zu den Filmen, die die ARD schon über Angela Merkel gemacht hatte, jetzt nach einer anderen Perspektive suchte. Wir haben jetzt eine andere Zeit. Der Blick auf Angela Merkel hat sich generell in den vergangenen drei Jahren verändert. Eine Bilanz im Hinblick auf Russland zu ziehen, war Teil dieses Blicks.

Welche Erkenntnisse brachte gerade die jüngere Perspektive für Sie persönlich, die Sie vielleicht vorher noch nicht zu Angela Merkel im Fokus hatten?

Tim Evers: Mir hat es geholfen, manche Aspekte klarer zu sehen. Ich fand es zum Beispiel erfrischend, wie Le Floid Angela Merkel beschreibt, als er ihr das erste Mal damals begegnete. Wie jemand, der damals 27 Jahre alt war, der im Internet mit 2,5 Millionen Follower eine große Nummer ist und auch keine Scheu hat, vor die Kamera zugehen, ins Kanzleramt fährt und die ganzen Sicherheitsrituale durchläuft. Wie er auch Angela Merkel wahrnimmt als eine Person, für die eigentlich nicht vorgesehen ist, dass man an sie herankommt. Dass es vor und nach dem Gespräch keine Möglichkeit gab, persönlich an sie heranzukommen, was ihr wiederum auch hilft, diese Teflonartigkeit aufzubauen. Ein paar Tage später gibt es den Bürgerdialog in Rostock, bei dem ein palästinensisches Mädchen aus dem Libanon sich meldet und die Unsicherheit äußert, ob sie als Staatenlose überhaupt im Land bleiben könne. Das Mädchen fängt an zu weinen, Frau Merkel tröstet sie. Es wird ein totaler Shit Storm. Das passiert alles kurz vor dem „Wir schaffen das“-Herbst. In Rostock wird Merkel noch für ihre Kaltherzigkeit angeprangert. Le Floid beschreibt das gut, dass dort die Lücke im Panzer sichtbar wurde. Wenn es spontan und emotional wird und man sich nicht auf die Situation vorbereiten kann. Wenn sie sich verhalten muss, wird dieser Panzer brüchig. So klar gesehen hatte ich das vorher noch nicht.

„Wir konnten Kate Bushs ‚Running Up That Hill‘ wie ein Leitmotiv verwenden.“

Tim Evers

In der ersten Episode setzen Sie nicht nur das Musikthema der populären Netflix-Serie „Stranger Things“ ein, sondern auch den Kate-Bush-Song „Running Up That Hill“, der inhaltlich Angela Merkels Aufstiegsgeschichte unterstreicht, aber eben durch „Stranger Things“ eine ganz neue Popularität erfahren hat.

Tim Evers: Die Idee für den Song „Running Up That Hill“ kam von dem rbb-Redakteur Rolf Bergmann. Aber uns war von Anfang an klar, dass wir mit Zeitgeist-Musik arbeiten. Wir wollten über die Musik auch die jeweilige Zeit transportieren. Man kommt mit nichts so direkt an das Publikum heran wie über die Musik. Damit lassen sich sofort Assoziationen und ein Zeitgefühl herstellen. Zugleich gab es die Schwierigkeit, dass wir uns an eine junge heutige Generation wenden. Da „Running Up That Hill“ durch „Stranger Things“ gerade in dieser Zielgruppe so verankert ist, schien mir das ein gutes Scharnier zu sein, mit dem man beides bekommt und gleichzeitig noch eine inhaltliche Ebene über den Songtext hat. Wir dachten uns, dass wir den Song dann aber auch gleich in der „Stranger Things“-Version nehmen, die sehr gegenwärtig ist. Da es von dem Song aber viele Versionen gibt, konnten wir den über alle Episoden hinweg wie ein Leitmotiv oder einen Filmsoundtrack verwenden.

Auf dieser Pop-Ebene ist es fast eine Art Verlängerung der diversen Musik-Doku-Projekte, die in den vergangenen Monaten in die ARD-Mediathek kamen, ob es die „Viva-Story“ oder die Doku-Serie über die 1990er-Jahre-Band „Echt“ war.  

Tim Evers:Ich bin eigentlich auch gar kein Polit-Journalist und nicht als ein solcher für die Regie gefragt worden. Ich komme eher aus den Ecken Zeitgeschichte und Musik. Das war hier aber eben auch einer der Hintergründe, warum ich für dieses Projekt angefragt wurde. Der Auftrag war, einen etwas anderen, frischeren Zugang auf diese uns scheinbar so vertraute Angela Merkel zu schaffen.

Gibt es einen Aspekt der Doku-Serie, mit dem Sie besonders zufrieden sind?

Tim Evers: Für diese Einschätzung brauche ich etwas mehr Abstand. Die Doku-Serie hat jetzt schon ein mächtiges Volumen mit knapp 160 Minuten und trotzdem denkt man, hier und da hätte ich gerne noch ein bisschen mehr Zeit gehabt, um ausführlicher zu erzählen. Die zeitlichen Ebenen herauszuarbeiten, hat gut funktioniert. Die große Schwierigkeit gerade für die ersten Folgen war, dass es dafür wenig Archivmaterial von Angela Merkel gibt – eigentlich bis in die späten 1990er-Jahre hinein. Die Bilder, die man bekommt, zeigen, wie sie in eine Parteizentrale hineingeht oder herauskommt oder bei einer Pressekonferenz sitzt. Es gibt wenig Beobachtungen, mit denen man einen Film bauen kann. Die Herausforderung war es, eine Form zu finden und es gleichzeitig visuell spannend und interessant zu halten. Einer der beiden Editoren – ich habe teilweise parallel in zwei Schnitträumen gearbeitet – hatte die Idee für den Splitscreen-Effekt, bei dem das Bild in viele kleine Bilder aufgefächert wird. Dadurch gab es ein Mittel, mit dem man grafisch eine gewisse Spannung herstellen konnte. So konnten wir auch Bilder mehrfach verwenden und längere Strecken bauen.

Teils entdeckt man auch Bilder von der jungen Angela Merkel, die man als Nicht-Angela-Merkel-Doku-Aficionado noch nicht gesehen hat, wenn sie zum Beispiel einfach am Tisch mit einer Gruppe von Menschen sitzt.

Tim Evers: Ja, es gibt einen 8mm-Schmalfilm von einem Betriebsausflug in der DDR um 1980. Das ist ein Ausschnitt, der schon einmal verwendet wurde, aber selten ist. An dem hatte glücklicherweise der rbb die Rechte. Damit konnten wir Angela Merkel wie aus einer anderen Welt nochmal zu uns blicken lassen.

Aktuell ist der Blick auf Angela Merkel stark vom Ukrainekrieg geprägt. Es ist aber auch immer ein bisschen wohlfeil, wenn man retrospektiv nach der jeweiligen politischen Entwicklung die Bewertung anpasst. Was ist Ihre Meinung, ob das in zehn Jahren nicht wieder anders aussieht?

Tim Evers: Man sieht gerade an den vergangenen drei Jahren, wie stark solch ein Blick von aktuellen Ereignissen überschattet und geprägt ist. Ich glaube zum Beispiel, dass dieser Ausnahmeweg, den Angela Merkel zurückgelegt hat, uns mit wachsendem Abstand immer außergewöhnlicher vorkommen wird und noch stärker beschäftigen wird. Beim Blick auf ihren Weg in den 1990er-Jahren an die Spitze habe ich den Eindruck, dass sich darin stärker der Weg vieler Ostdeutscher in Gesamtdeutschland spiegelt, als wir das damals sehen wollten. Es geht viel um Anpassung. Sie wollte in der CDU fast unsichtbar werden und trat erst viel später selbst heraus und wurde als Person sichtbar. Es ging mir zwar auch darum, nachzuzeichnen, wo es vielleicht Versäumnisse beim Thema Ukraine und Russland gab. Aber mit dem Finger auf diese eine Person zu zeigen und so zu tun, als wäre sie die Einzige, die etwas falsch gemacht hätte, finde ich wiederum falsch. Uns war wichtig, dass man sieht, wie sich Deutschland in diesen Jahren veränderte. Es gab fast niemanden in der politischen Klasse, der diesen Aspekt besonders anders gesehen hätte als sie. Sie war eigentlich immer im Einklang mit der Mehrheitsmeinung im Land. Der Blick auf sie kann in zehn Jahren wieder ganz anders aussehen. Ich denke, dass man noch einige Filme über sie machen kann. 

Das Interview führte Michael Müller