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REVIEW ZFF: „On Falling“

Hartes und ebenso faszinierendes Sozialdrama über eine junge Portugiesin, die in Schottland in einem riesigen Warenhaus für einen Online-Supermarkt Gegenstände zum Verschicken heraussuchen muss und langsam daran zerbricht. 

CREDITS:
Land / Jahr: Vereinigtes Königreich / Portugal 2024; Laufzeit: 104 Minuten; Regie & Drehbuch: Laura Carreira; Besetzung: Joana Santos, Inês Vaz, Piotr Sikora, Neil Leper

REVIEW:
Crushed by the Wheels of Industry: Das Fiepen und Piepen bekommt man so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Es bestimmt das Leben der jungen Portugiesin Aurora, die es, der Globalisierung sei Dank, nach Schottland verschlagen hat, wo sie in einer Lagerhalle für ein Online-Warenhaus Bestellungen heraussucht. Tage werden damit verbracht, durch die endlosen Regalreihen zu gehen, die ohne erkennbare Ordnung gelagerten Gegenstände anhand ihrer Nummern auszusuchen und in einem Schiebewagen zur Weiterverarbeitung zu sammeln. Seit „Moderne Zeiten“ nicht mehr war der Begriff „Rädchen im System“ zutreffender. Aurora muss zuerst auf ihrem Scangerät die Bestellung bestätigen (PIEP), dann ihren Sammelwagen bestätigen (PIEP), dann den Gegenstand bestätigen (PIEP) und dann noch einmal bestätigen, dass sie den Gegenstand in den Sammelwagen gelegt hat (PIEP). Wash, rinse, repeat. Den ganzen Tag. PIEP PIEP PIEP PIEP. Wir sind die Roboter.

Laura Carreiras „On Falling“ mit Joana Santos (Credit: ZFF)

In einer Szene sieht man sie bei ihrem Tagwerk, während eine Gruppe von Besuchern eine Führung durch die riesige Lagerhalle erhält und mitleidig von oben auf die Arbeitsdrohnen blickt, während der weibliche Tourguide gut gelaunt davon erzählt, dass die Gegenstände nach keiner für die Mitarbeiter erkennbaren Logik eingelagert wurden – but there’s a method to the madness –, damit die Arbeit für die Angestellten interessanter sei. Ein kleiner Junge sieht Aurora, kramt in seiner Tasche und wirft ihr eine Nuss zu. Willkommen im menschlichen Zoo von „On Falling“, eine bittere und faszinierende Studie der Entmenschlichung und Isolation, mit der die Portugiesin Laura Carreira nach drei Kurzfilmen ein Regiedebüt gibt, das Aufhorchen lässt. Man fühlt sich in der Welt der Filme von Ken Loach, Andrea Arnold und Lynne Ramsay, und doch hat Carreira schon jetzt einen ganz eigenen Stil, einen eigenen Blick: Wie die von der großartigen Joana Santos gespielte Aurora von ihrer Arbeit verzehrt wird, wie diese stupide, stumpfsinnige und menschenverachtende Beschäftigung Besitz von jeder Pore und Faser ihres Körpers ergreift, hat eine elektrisierende und ganz allgemeingültige Qualität. 

Aurora arbeitet wie eine Besessene. Es gilt Quoten zu erfüllen. Ist man gut, wird man gelobt. Ist man nicht so gut, wird der Druck erhöht. They say jump, you say: How high. Rage against the machine, Kugel in den Kopf. Aurora kommt nicht vom Fleck. Sie ist arm, lebt in einer Gemeinschaftswohnung mit anderen jungen Menschen aus aller Herren Länder, die sich bestenfalls kurz in der Küche treffen und in Streit darüber geraten, wer wem die Milch aus dem Kühlschrank weggetrunken hat. Ein neuer polnischer Mitbewohner bringt Leben in die Bude, lädt Aurora ein, mit in einen Club zu kommen, was sie als mehr liest als von ihm angenommen. Sie will einen neuen Job und erhält kurzfristig einen Bewerbungstermin, für den sie sich allerdings freinehmen müsste, was in der Kürze der Zeit in ihrem rigiden Anstellungsverhältnis nicht möglich ist. Kompromisslos dreht der Film an der downward spiral, potenziert sich die Verzweiflung und Anspannung seiner Hauptfigur, eine Frau, die nicht mehr kann: Es ist regelrecht herzzerreißend, ihr zuzusehen, wie sie sich krankmeldet, um an dem Bewerbungsgespräch teilzunehmen und sich dann auf dem Weg in einem Kaufhaus schminken lässt, immer in dem Bewusstsein, dass sie sich keine Schminke wird leisten können. Es ist ein wahnhafter Moment, die pure Panik, wenn Aurora bewusst wird, dass es für sie wohl kein Entkommen geben wird aus dem Teufelskreis, aus dem Hamsterrad, dass sie immer der Servant eines gesichtslosen Masters bleiben wird. Und wie es dann im entscheidenden „Mouchette“-Moment in einem verlassenen Park einen kurzen Hauch von Menschlichkeit gibt, eine Geste der Güte. Bevor sie weiter zermalmt wird von den Rädern der Industrie.

Thomas Schultze