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REVIEW ZFF: „A Real Pain“

Bittersüß-komisches Roadmovie über zwei amerikanische Cousins, die in Polen nach den Wurzeln ihrer Familie forschen.

CREDITS: 
O-Titel: A Real Pain; Land/Jahr: USA/Polen 2024; Laufzeit: 90 Minuten; Drehbuch: Jesse Eisenberg; Regie: Jesse Eisenberg; Besetzung: Jesse Eisenberg, Kieran Culkin, Will Sharpe, Jennifer Grey, Kurt Egyiawan, Liza Sadovy, Daniel Oreskes; Verleih: Disney; Start: 16. Januar 2025

REVIEW:
Eine Zugreise durch Europa, zwei Menschen, die sich fortwährend tiefgründig über die tiefgründigsten Dinge des Lebens unterhalten, während Zeit und Raum nur so dahinfließen: Sehr oft erinnert „A Real Pain“ trotz seiner eigentlich viel schwerwiegenderen Ausgangssituation an Richard Linklaters „Before“-Trilogie, die die unerträgliche Leichtigkeit des Daseins auf eine unvergleichlich entspannte Weise eingefangen hat. Auch dieser Film ist die hinreißende Chronik eines Trips, bei dem es um Selbstfindung und um komplizierte menschliche Beziehungen geht, in diesem Fall um zwei ungleiche jüdische Cousins, die sich einmal nahestanden aber auseinandergelebt haben, um Benji, gespielt von Kieran Culkin, und um David, verkörpert von Jesse Eisenberg, der hier auch für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnet. Der Anlass für das Wiedersehen ist der kürzliche Tod der geliebten Großmutter, einer polnischen Jüdin, die den Holocaust überlebte, sich in den USA ein neues Leben aufbaute und den Enkeln so viel Geld hinterließ, dass sie sich auf Ahnenforschung begeben können. 

Kurt Egyiawan, Will Sharpe, Kieran Culkin und Jesse Eisenberg in „A Real Pain“ (Credit: Searchlight Pictures)

Die „Heritage Tour“ durch Polen führt sie unter anderem in das Konzentrationslager, in dem die Großmutter interniert war, und zu dem Haus, in dem sie aufwuchs. Es ist eine Tour, um nicht zu sagen Tortur, der Gegensätze und Charaktere: David ist – typisch Jesse Eisenberg – ein scharfsinniger, verklemmter New Yorker, ein Ad-Sales-Manager, der mit Frau und Kind in Brooklyn wohnt und sich mit seinen Neurosen, Zwangs- und Angststörungen arrangiert hat. Benji ist ein charismatischer Freigeist, der im Moment lebt, er ist extrem liebenswert, extrem mitfühlend und oft extrem anstrengend, a real pain in the ass. Er spricht ungefiltert aus, was alle anderen denken, aber nicht zu sagen wagen. Sein konfrontatives und offenbar manisch-depressives Verhalten lässt unterschwellige Spannungen erahnen, die nur darauf warten, im Laufe der Reise an die Oberfläche zu treten und das Verhältnis zu David auf die Probe zu stellen. 

„A Real Pain“, Jesse Eisenbergs zweite Regiearbeit nach dem tragikomischen Familiendrama „When You Finish Saving The World“, trägt die sehr persönliche Handschrift des Filmemachers, dessen Familie tatsächlich aus Polen stammt, sein Drehbuch und sämtliche Charaktere haben eine Wahrhaftigkeit, die man in jedem Augenblick spüren kann. Allein das erste Treffen dieser dysfunktionalen Reisegruppe, der sich Benji und David in einer Warschauer Hotellobby anschließen, offenbart jede einzelne, menschliche Schwäche der Figuren, während diese versuchen, sich von ihren besten Seiten zu präsentieren, eine Szene, die eine so echte, unter die Haut kriechende Unbehaglichkeit vermittelt, wie sie geradezu zum Markenzeichen von Jesse Eisenberg als Schauspieler und als Autor geworden ist. 

Kieran Culkin und Jesse Eisenberg in „A Real Pain“ (Credit: Searchlight Pictures)

Zur Truppe gehören Marcia (Jennifer Grey), eine Frischgeschiedene aus Los Angeles, deren Großeltern vor dem Holocaust geflohen sind, außerdem ein leicht behäbiges, farbloses älteres Paar polnisch-jüdischer Abstammung (Daniel Oreskes und Liza Sadovy) sowie Eloge (Kurt Egyiawan), ein Überlebender des Völkermords in Ruanda, der in Kanada zum Judentum konvertiert ist. Als Reiseleiter hält der sensible philosemitische Oxford-Absolvent James (Will Sharpe) die jüdische Fahne hoch und schwört alle auf „die Aufarbeitung einer schmerzhaften Geschichte“ ein. Die wiederum betrifft nicht nur den bevorstehenden Besuch des Konzentrationslagers Lublin-Majdanek, sondern vor allem die emotionale Tour de Force, die Benji bevorsteht. Er kann es nicht ertragen, dass die Gruppe im Zug in der ersten Klasse sitzt, obwohl „wir vor 80 Jahren wie Vieh in den hinteren Teil gedrängt worden wären“. Er fühlt sich persönlich beleidigt, als James bei der Besichtigung eines jüdischen Friedhofs nur Fakten und Zahlen herunterbetet, statt die Toten zu respektieren. Er nutzt jede Gelegenheit zur Provokation wie ein unflätiges Kleinkind ohne Impulskontrolle – bis die Fremdscham schließlich für seinen Cousin zur Qual wird und die Situation eskaliert. 

David liebt Benji aufrichtig, beneidet ihn dafür, dass er jeden mit seinem Charme um den Finger wickeln kann, hasst ihn dafür, dass er alle in seine seelischen Abgründe zieht, und es ist eine ungeheuerliche Leistung von Kieran Culkin, der allein mit seinem körperlichen Spiel und seiner Impulsivität dafür sorgt, dass man auch als Zuschauer 90 Minuten lang nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Der ganze Film ist bipolar wie seine Hauptfigur, mit mal melancholischer, mal beschwingter Chopin-lastiger Klavierbegleitung, in einem Moment spaßiges Buddy-Movie, im nächsten tieftrauriges Drama. Man weiß nie so genau, wohin die Reise geht, aber nie verliert sie ihren Flow und ihre Leichtfüßigkeit. Jesse Eisenberg ist ein brillanter Drehbuchautor, ein kluger Beobachter, der sensibel mit den ernsten Themen seines Films umgeht, nie grüblerisch, immer zum Nachdenken anregend. Sein Blick – und der seines fabelhaften Kameramanns Michal Dymek („The Girl With The Needle“) – ist neugierig und offen, manchmal fast dokumentarisch. 

„A Real Pain“ hat viel gemeinsam mit Julia von Heinz’ „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“, der ebenfalls den „Holocaust-Tourismus“ zum Anlass für eine Charakter- und Beziehungsstudie zwischen zwei ungleichen Hauptfiguren nimmt und das ganze Unternehmen zugleich kritisch hinterfragt – den Sinn und Zweck dieses „geriatrischen Trips“ (O-Ton Benji), der mitunter Wunden aufreißt, statt mit den Traumata der Vergangenheit zu versöhnen. Was passiert, wenn man sich dem Schmerz stellt, den man in sich trägt oder den die Nähe eines anderen Menschen bedeuten kann? Wie wägt man persönliche Probleme gegen eine alles überschattende Tragödie ab? Wie geht man mit dem Vermächtnis des Leidens und des Überlebens um? Es ist eine geradezu irritierend unterhaltsame philosophische Abhandlung über das titelgebende Thema, dem sich Jesse Eisenberg mit so viel Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit widmet, dass er sich auch eingesteht, die damit einhergehenden Konflikte nicht lösen zu können. Wenn die Kamera in der wundervollen letzten Einstellung des Films noch einmal die ganze Verlorenheit und Zerrissenheit in Benjis Gesicht zeigt, findet er darin zumindest die Antwort auf die Frage, wie sich echter Schmerz anfühlt.

Corinna Götz