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REVIEW KINO: „Milchzähne“

Sozialkritisches Mystery-Drama basierend auf Helene Bukowskis viel gelobtem dystopischen Roman aus dem Jahr 2019.

CREDITS: 
O-Titel: Milchzähne; Land/Jahr: Deutschland/Schweiz 2023; Laufzeit: 97 Minuten; Drehbuch: Sophia Bösch, Roman Gielke; Regie: Sophia Bösch; Besetzung: Mathilde Bundschuh, Susanne Wolff, Viola Hinz, Ulrich Matthes, Lola Dockhorn, Vedat Erincin, Karin Neuhäuser, Andreas Lust; Verleih: Farbfilm Verleih; Start: 21. November 2024

REVIEW:
In einer Dorfgemeinschaft irgendwo in Deutschland, in einer nicht näher bestimmten Zeit leben Edith (Susanne Wolff) und ihre Tochter Skalde (Marlene Bundschuh) vom Rest der Welt abgeschottet. Edith ist vor Jahren am Ufer des angrenzenden Flusses gestrandet und wird als Fremde geduldet, während sich Skalde inzwischen die Akzeptanz der Bewohner erkämpft hat. Die infolgedessen ohnehin fragile Beziehung der beiden Frauen wird auf die Probe gestellt, als eines Tages das Mädchen Meisis (Viola Hinz) vor der Tür steht. Die Regeln verlangen, dass es umgehend wieder in den Wald „ausgesetzt“ wird: Die Ressourcen sind knapp, das Land verbrannt oder verdorrt, die Selbstversorgung gibt nicht genug her, um Fremde aufzunehmen – außerdem könnte es sich um ein bösartiges Wolfskind handeln, das bereits ein Schaf gerissen hat, die Menschen berauben und ins Unglück stürzen will. Doch Skalde bringt es nicht übers Herz, Meisis sich selbst zu überlassen und riskiert damit die Loyalität der Gemeinde. Sie handelt mit dem Bürgermeister Pesolt (Ulrich Matthes) einen Deal aus: Weil man Wolfskinder daran erkennt, dass sie winzige Zähne im Mund haben, die nie ausfallen, soll Meisis so lange bleiben, bis sie ihre Milchzähne verloren hat. Währenddessen will Skalde herausfinden, wer oder was wirklich für die immer häufiger auftauchenden Tierkadaver verantwortlich ist – und bringt mit ihrer Wahrheitssuche schließlich das System ins Wanken.

„Milchzähne“ (Credit: Merav Maroody)

Die schweizerisch-deutsch-schwedische Filmemacherin Sophia Bösch, Mitbegründerin des feministischen Filmkollektivs Lillemor in Stockholm, greift in ihrem Debütfilm Ausgangssituation und Figuren des gleichnamigem Climate-Fiction-Romans von Helene Bukowski auf, der vom Überleben einer Mutter und ihrer Tochter in einem dystopischen Klimawandelszenario erzählt. Zugleich knüpft sie an die Thematik ihres mehrfach ausgezeichneten Kurzfilms „RÅ“ an: Erneut macht sie den Wald zum symbolträchtigen Schauplatz für weibliche Selbstbestimmung, für Frauen, die mit dem Gewehr in der Hand durch die Wildnis streifen, mit den Grenzen der Gesellschaft konfrontiert werden, der sie angehören wollen – in diesem Fall einer Art Mikrogesellschaft, einer Selbstversorgerenklave, die sich offenbar in Folge von Umweltkatastrophen isoliert hat, und deren Gründer ein System der Abschottung nach außen und der Repression nach innen errichtet haben. Jedem der sich nicht anpasst, der sich nicht an Gesetze hält und Eindringlinge willkommen heißt, drohen rigide körperliche Strafen, weil nur auf diese Weise die vermeintlich heile Welt bewahrt wird – so hat es zumindest der (männliche) Gemeinderat beschlossen. 

Es sind ähnliche Vorzeichen wie in „The Village“, allein die Anfangssequenz des Films, in der Kinder einen blutigen Tierkadaver finden, ist wie ein Zitat aus M. Night Shyamalans Mystery-Thriller, Ulrich Matthes’ bärtiger, Weisheit verbreitender, gutmütig wirkender Bürgermeister Pesolt erinnert an William Hurts Dorfältesten Edward Walker, nicht blind wie dessen Tochter Ivy, aber mit starrem Blick lenkt dessen rechte Hand, Marlene Bundschuhs Skalde die Geschichte. Darin geht es – wie bei Shyamalan – um die Psychologie der Angst und um Aberglauben, es gibt eine unsichtbare Bedrohung, der nur Kinder aufgeschlossen gegenüberstehen, das Erzähltempo ist langsam, auf schnelle Schnitte wird verzichtet, die Inszenierung ist mehr an Stimmung und Atmosphäre interessiert als am Spannungsbogen. Der Wald knarzt, das Wasser rauscht, hin oder wieder vermischt mit einem düsteren, kargen Score, anstelle von fließenden Dialogen bleiben Sätze bedeutungsschwer im Raum stehen, verweisen auf die großen Konflikte unserer Zeit, Kriege, Flüchtlingskrisen, Klimawandel, Unterdrückung, Verschwörungstheorien.

Der Mikrokosmos der Dorfgemeinschaft spiegelt die Gegenwart wider, eine Politik, die mit dem Beharren auf Grenzen die Grundwerte des Zusammenlebens verrät, die Verrohung der Sitten und den Verlust der Menschlichkeit in Kauf nimmt, was sich so trost- und freudlos anfühlt, als hätte man der Welt das Herz herausgerissen. Der Ton ist kalt und abweisend, Angst und Misstrauen stehen allen ins Gesicht geschrieben, Mundwinkel sind fortwährend heruntergezogen. Jede Gefühlsregung wird im Keim erstickt, jeder Moment der Nähe abrupt unterbrochen, Beziehungen zwischen den Charakteren bleiben nur Andeutungen – es ist eine Inszenierung, die kein Mitgefühl und keine Sympathie zulässt, die sich vor dem Zuschauer verschließt, ebenfalls abschottet. Bis die morbide Erzählweise im letzten Drittel dann doch unter die Haut geht und sich dramatisch zuspitzt, um mit dem unvermeidlichen Plot Twist zu enden. Weil die weiblichen Hauptfiguren schließlich mit patriarchalischen Regeln brechen, sich auf ihre Instinkte besinnen – und ihrem Herz folgen. Bis dahin beißt man sich ein bisschen die Zähne an ihnen aus. 

Corinna Götz