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REVIEW KINO: „Cuckoo“

Ebenso verrückter wie effektiver Gruselschocker, in dem ein isolierter Teenager in einem Resort in den bayerischen Bergen einmal durch die Hölle und vielleicht nicht mehr zurück geschickt wird. 

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland / USA 2024; Laufzeit: 102 Minuten; Regie & Drehbuch: Tilman Singer; Besetzung: Hunter Schafer, Dan Stevens, Jan Bluthardt, Marton Csokas, Jessica Henwick, Greta Férnandez; Verleih: Weltkino; Start: 29. August 2024

REVIEW:
Wir haben ein Gretchen, einen (Herr) König, den deutschen Wald. Und es geschehen Dinge wie in einem Märchen, unerklärliche und fantastische Dinge, und doch ist auch der zweite Spielfilm des deutschen Filmemachers Tilman Singer, eine Produktion der jungen Düsseldorfer Firma Fiction Park (Maria TsigkaMarkus Halberschmidt), doch vor allem eine effektive, beklemmende und immer wieder auf wunderbare Weise verrätselnde Creepshow, unverkennbar das Werk des Filmemachers, der vor sechs Jahren mit seinem visuell ebenso eindringlichen „Luz“ bereits schon auf sich aufmerksam gemacht hatte. Allerdings eine deutliche Nummer größer jetzt, mit einem sensationell namhaften Cast, angeführt von dem als It-Girl gefeierten Jungstar Hunter Schafer aus „Euphoria“, jener HBO-Serie, die auch Zendaya, Sydney Sweeney und Jacob Elordi hervorgebracht hat – und gerade erst auch in „Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds & Snakes“ sowie „Kinds of Kindness“ zu sehen, was in etwa auch ihre darstellerische Bandbreite abdeckt (sprich: enorm). Um sie herum spielen ebenso verlässliche wie mutige Darsteller wie Dan Stevens(immer gut, längst eine Qualitätsempfehlung) mit seiner zweiten deutschsprachigen Darstellung nach seinem Auftritt nach Lola-Abräumer „Ich bin dein Mensch“, Jessica Henwick aus „The Royal Hotel“ und „Glass Onion: A Knives Out Mystery“ oder Marton Csokas, der Bösewicht aus „The Equalizer“. 

„Cuckoo“ mit Hunter Schafer (Credit: Weltkino / Neon)

Die generelle Prämisse kennt man aus anderen Filmen: Ein Teenager wird aus seinem bisherigen Leben gerissen, muss mit ihrem Vater und dessen neuer Ehefrau gemeinsam mit ihrer stummen achtjährigen Tochter in ein einsames Resort in den bayerischen Alpen ziehen. Sie sind dort auf Einladung eines reichen Mannes, des von Dan Stevens gespielten Herr König, der jovial wirkt und umgänglich, aber schon beim ersten Auftreten keinen Zweifel daran lässt, dass er offenkundig verrückt ist. Sofort ist es, als wäre man in einer anderen Welt, nicht ganz der Realität verhaftet – und natürlich auch Sinnbild für die Entwurzelung von Gretchen, die sich nichts sehnlicher wünscht, als in die USA zurückzukehren, in die Welt, die sie kennt, und zu ihrer Mutter, mit der sie pausenlos telefoniert, die aber nicht abzuheben scheint, wenn sie von ihrer Tochter angerufen wird. König hat Gretchens Vater angestellt, dessen Freizeitanlage einer Rundumerneuerung zu unterziehen. Oder behauptet das zumindest, weil sich schnell herausstellt, dass hier, hoch in den Bergen und isoliert von der Außenwelt, etwas im wahrsten Sinne des Wortes faul ist. Was damit beginnt, dass zwar der Ort der Erzählung vermeintlich genau benannt ist, aber nicht die Zeit, in der der Film spielt. Es könnte jederzeit sein zwischen der Mitte des 20. Jahrhunderts bis jetzt. Oder alles gleichzeitig. Nie kann man den Finger genau drauflegen. Das ist Teil des Plans.

Es geschehen unerklärliche Dinge. Kennt man. Denkt man. Aber eben nicht so wie hier. Tilman Singer lässt sich bei der Umsetzung seiner erstaunlichen Vision, ein Drittel Lynch, ein Drittel Buñuel, ein Drittel ganz eigener Wahnsinn, in kein Korsett zwängen, auch erzählerisch nicht. Nicht alles erscheint logisch. Aber gerade dieser Disconnect lässt das beklemmende Szenario so gut funktionieren, weil man sich gemeinsam mit Gretchen durch ein Szenario tasten muss, das größer erscheint, als fassbar erscheint, tatsächlich ein bisschen so wie in „Die Theorie von allem“, aber stärker und eindeutiger dem fantastischen Genre verhaftet. Tatsächlich ist man froh, sich in einem Horrorfilm zu befinden. Sonst würde man den Verstand verlieren, wenn Gretchen von ihren makabren Begegnungen mit einer Frau mit blonder Perücke und einer kreischenden Stimme, als wolle sie den Pod-People in Phil Kaufmans „Invasions of the Body Snatchers“ Konkurrenz machen, zunehmend körperlich gezeichnet ist. Je mehr sie körperlich malträtiert wird, Wunden und Verletzungen davonträgt, mehr und mehr bandagiert durch den Plot stolpert, desto weniger Glauben wird ihr geschenkt von ihren Eltern. Bis der Film doch noch eine Aufklärung präsentiert, eine Art Endgame des bizarren Herrn König, warum all diese mysteriösen Dinge passieren. Er müsste noch nicht einmal Flöte spielen, um dem Zuschauer begreiflich zu machen, dass er ein Rattenfänger von Hameln ist. 

„Cuckoo“ ist ein faszinierender Film und immer dann am besten, wenn er voll und ganz auf seine eigenwillige Stimmung vertraut, sich nicht darum kümmert, ob die disparaten Einzelteile schließlich wirklich plan zusammengefügt werden. Die scharfen Ecken und Kanten geben dem Treiben, das sich Tilman Singer da zusammengesponnen hat, seine ureigene Qualität. Jeder Umweg ist willkommen. Einmal versucht Gretchen mit einer anderen jungen Frau, die sie beim Jobben an der Rezeption des Resorts kennenlernt, dem Terrordom zu entkommen, lesbian lovers on the run, was in einem filmisch brillant umgesetzten Autounfall mündet und ein abruptes Ende findet. Oder die zahlreichen Verweise auf die extremeren Spielarten des Body-Horror, ein Fanal wild ausgeworfener Körperflüssigkeiten, sei es Blut, sei es Übergebenes: Nichts Körperliches ist „Cuckoo“ fremd. Weshalb man nie weiß, wie weit die Geschichte gehen wird. Ziemlich weit. Und manchmal übers Ziel hinaus. Und immer irgendwie goldrichtig. 

Thomas Schultze