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Malala Yousafzai & Sue Kim zu „The Last of the Sea Women“: „Diese Geschichte musste einfach erzählt werden“

Viel Beifall beim Toronto International Film Festival erhielt der Dokumentarfilm „The Last of the Sea Women“ von Regisseurin Sue Kim, der morgen bei Apple TV+ startet. Gemeinsam mit ihrer Produzentin, der Nobelpreisträgerin Malala Yousafzai, stand Sie uns für ein Gespräch zur Verfügung. 

Die Macherinnen von „The Last of the Sea Women“: Sue Kim und Malala Yousafzai (Credit: Apple, Tracy Nguyen)

In Ihrem Film geht es um die haenyeo, weibliche Taucher auf der Insel Jeju in Südkorea. Wie sind Sie auf diese bemerkenswerten Frauen aufmerksam geworden?

Sue Kim: Mir ist schon fast mein ganzes Leben bewusst, dass es sie gibt. Als ich acht Jahre alt war, verbrachten wir einen Familienurlaub auf der Insel Jeju. Da sind wir ganz zufällig an ihnen vorbeigekommen, aber ich habe den Anblick dieser großen Gruppe von Frauen in Taucheranzügen, die gemeinsam ins Meer tauchten, nie vergessen. Ich empfand das als sehr beeindruckend. Sie fielen einfach auf und kamen mir so mutig und stolz vor. Es gab riesiges Bohei, sie schrien herum, stritten miteinander. Die Energie, die von ihnen ausging, packte mich, ich habe mich auf der Stelle in sie verliebt. Ich hatte noch nie Frauen erlebt, die so selbstsicher waren, einfach den Platz für sich so strahlend reklamierten, an dem sie sich befanden. 

Aber wie kam es dann zu dem Film?

Sue Kim: Diese Frauen haben mich immer beschäftigt. Als Erwachsene bin ich dann nach Jeju zurückgekehrt, um sie aufzusuchen und mit ihnen zu reden. Vor etwa zehn Jahren kam ich ins Gespräch mit einer 84-jährigen haenyeo, die ich fragte, wo denn die jungen haenyeo seien, ich sähe im Wasser nur Großmütter. Sie war es, die mir erzählte, dass keine Jugend nachkäme, sie seien die letzte Generation der haenyeo. Das legte bei mir einen Schalter um, und ich beschloss, alles zu unternehmen, um diesen Film zu machen. Der Gedanke, dass wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen die Auslöschung ihrer Kultur schwebte, machte mich fassungslos. Wenn es diese Kultur schon nicht mehr geben sollte, dann musste da doch wenigstens ein Film sein, der ihr Andenken ehrt. Noch ist es nicht so weit. Vielleicht geht es ja weiter. Aber diese Frauen sollten wissen, dass sie gesehen werden. 

War es leicht, die Frauen davon zu überzeugen, gefilmt zu werden, über längere Zeit immer ein Kamerateam um sich zu haben?

Sue Kim: Wir haben viel Zeit mit ihnen verbracht, haben viel gedreht, stimmt. Nein, es war überhaupt nicht schwer. Es war nur eine Frage, sich mit ihnen zu treffen und ihnen zu erklären, was uns vorschwebte. Es gefiel ihnen, dass wir uns so viel Zeit für sie nahmen, dass wir uns mit ihnen hinsetzten und sie vor der Kamera über alle möglichen Aspekte ihres Lebens befragten. Sie waren glücklich, dass sich jemand für sie interessierte, weil jede von ihnen Geschichten zu erzählen, Botschaften zu übermitteln hatte, an denen sie die Welt Anteil nehmen lassen wollten. Nicht so einfach war es indes davor, sie überhaupt zu finden, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Sie leben in kleinen Fischerdörfern auf der Insel Jeju, die alle gar nicht so leicht zu erreichen sind. Es ist sehr ländlich dort, sehr abgeschieden. Es gab also logistische Probleme. Zum Glück konnten wir auf eine Frau zurückgreifen, die für diverse Nichtregierungsorganisationen tätig war und schließlich die Kontakte herstellen konnte. 

Malala Yousafzai, wie sind Sie auf die haenyeo aufmerksam geworden? 

Malala Yousafzai: Ich hatte noch nie von ihnen gehört! Aber als ich meine Produktionsfirma Extracurricular mit Apple TV+ startete, machten wir uns gezielt zur Aufgabe, nach Projekten zu suchen, die uns mit weiblichen Regisseuren, Produzenten und Autoren zusammenbringen, um ihnen dabei zu helfen, ihre besonderen Ideen umzusetzen. Und Geschichten zu erzählen über unterrepräsentierte Gruppen und ihnen damit eine Öffentlichkeit zu geben. „The Last of the Sea Women“ war eines dieser Projekte, die über meinen Schreibtisch wanderten. Ich war gleich fasziniert und nahm Kontakt mit Sue auf. Ich wusste, dass ich helfen wollte, damit diese Geschichte erzählt werden kann. Was für großartige Frauen! Was sie machen und wie sie es machen, wozu sie in der Lage sind! Mir zumindest öffnete das Projekt die Augen, auf welch ungewöhnliche Weise Frauen ihre Gemeinden bis ins hohe Alter formen und gestalten können. Für mich war es eine relevante, wichtige Geschichte. Die Welt soll wissen, welchen Bedrohungen diese besondere Welt ausgesetzt ist. 

„The Last of the Sea Women“ von Sue Kim (Credit: Apple)

Und Apple konnten Sie auch gleich davon überzeugen?

Malala Yousafzai: Geschichten wie „The Last of the Sea Women“ sind der Grund, warum wir die Firma gemeinsam gestartet haben. Aber es kam ja nicht nur Apple an Bord, auch A24 waren sofort begeistert von dem, was wir machen wollten. Ich bin unglaublich stolz. Es ist meine erste Filmproduktion, mein erstes Mal auf dem Toronto International Film Festival als Produzentin. Es ist ein tolles Gefühl, diesen Film gemacht zu haben und ihn jetzt mit der Welt teilen zu können.

Konnten Sie selbst auf die Insel Jeju reisen?

Malala Yousafzai: Leider nicht. Aber wir sind gerade dabei, entsprechende Pläne zu machen. Zwei der haenyeo sind mit uns in Toronto, waren bei der Premiere dabei und haben ebenfalls Interviews gegeben, wir hatten gemeinsame Photocalls. Eine der Frauen hat aus einem ihrer Fischernetze eine Anstecknadel gemacht, die sie mir geschenkt hat. Und sie haben mich eingeladen, nach Jeju zu kommen. Dem werde ich auf jeden Fall nachkommen. Sie haben mir erzählt, wie stolz sie auf den Film sind und dass sie es gar nicht fassen können, dass sich die Welt für das interessiert, was sie zu erzählen haben. Ich war sehr bewegt, wie eine von ihnen bei der Premiere in Freudentränen ausbrach und gar nicht mehr aufhören konnte. 

Regisseurin Sue Kim beim Dreh von „The Last of the Sea Women“ (Credit: Apple)

Ihre kleine Geschichte ist ein sehr politischer Film geworden. Viele der drängenden Themen unserer Zeit spiegeln sich in „The Last of the Sea Women“. Wie erhielt der Film seine Form?

Sue Kim: Einige der Umweltfaktoren, die zur Bedrohung der haenyeo beitragen, waren mir bewusst. Und natürlich war klar, dass dies auch im Film angesprochen werden musste. Viele Dinge wusste ich aber auch noch nicht, sie wurden mir erst im Verlauf des Drehs bewusst. Bevor wir mit dem Dreh begannen, erfuhren wir davon, dass das verseuchte Wasser von Fukushima ins Meer abgelassen werden sollte – aber nur, weil die japanische Regierung es 2021 vermeldete. Keiner wusste, wann das passieren sollte. Und es ist auch nicht klar, welche Auswirkungen es haben wird, auf das Wasser, auf das Leben im Wasser, auf die haenyeo. Es gab viele Fragen, aber wenige Antworten. Klar war, dass der Fokus auf den haenyeo und ihrem Leben liegen würde. Damit ist aber auch klar, dass man politische Themen nicht würde ausklammern können, wenn sie ihr Leben betrafen. Und natürlich haben die Erderwärmung und der Klimawandel ganz unmittelbaren Einfluss auf die Arbeit dieser Frauen. Die haenyeo haben nie ein Blatt vor den Mund genommen, weil sie die Veränderung im Ozean aus erster Hand registrieren und die Welt wissen lassen wollen, was sie sehen und erleben. 

Aber man kann in einem Dokumentarfilm nie vorhersehen, was passieren wird…

Sue Kim: Natürlich nicht. So sehr wir uns mancher Entwicklungen bewusst waren, konnten wir überhaupt nicht sagen, wie die Frauen auf Jeju reagieren würden, was das mit ihnen machen würde. Als sie in der Townhall von den Plänen der japanischen Regierung erfahren, reagieren sie fassungslos, sind schockiert, und dann sind sie wütend. Wir fangen das live ein. Was man im Film aber auch sieht: Wie sie diesen Zorn in entschlossenen politischen Aktivismus verwandeln. Wir müssen aufstehen! Wir müssen etwas tun! Das miterleben zu dürfen, ist umwerfend. Als Dokumentarfilme ist es unsere Aufgabe, unparteiisch zu bleiben und die Frauen einfach mit der Kamera zu begleiten, zu den Protesten, zu ihrer Einladung, vor der UN in New York zu sprechen. Wie hätte man so etwas vorhersehen können? Aber ich bin begeistert, dass es passiert ist. Es ist wie eine Zusammenfassung der Botschaft ihres Lebens. 

Das Gespräch führte Thomas Schultze.