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REVIEW FILMFEST HAMBURG: „Quiet Life“

Intensives Drama über eine russische Flüchtlingsfamilie, die in Schweden darum kämpft, nicht abgeschoben zu werden. 

„Quiet Life“ (Credit: Wild Bunch)

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Schweden 2024; Laufzeit: 100 Minuten: Regie Alexandros Avranas; Drehbuch: Alexandros Avranos, Stavros Pamballis; Besetzung: Chulpan Khamatova, Grigory Dobrygin, Naomi Lamp, Miroslava Pashutina, Eleni Roussinou, Johannes Bah Kuhnke; Verleih: Wild Bunch; Start: Frühjahr 2025

REVIEW:
Eine vorbildliche Familie, die sich in der ersten Szene des neuen Films von Alexandros Avranas vor der Kamera aufreiht, wie für einen besonderen Moment. Wie sich zeigen wird, ist das tasächlich so. Der letzte Moment, in dem alles gut ist. Sergei und Natalia sind Flüchtlinge aus Russland, haben ihre Töchter Alina und Katia mitgenommen nach Schweden, wo sie Asyl beantragt haben, nachdem sie in ihrer Heimat körperlichen wie psychischen Angriffen ausgesetzt waren. Jetzt haben sie alles gemacht, was sie machen sollten, damit ihr Antrag positiv beschieden wird, sie unbegrenzten Aufenthalt genehmigt bekommen. So zuversichtlich sind sie, dass sie sich beim Abendessen neckisch bereits schwedische Namen geben. Ingrid, Hilda, Sven, Astrid. Dazu wird es nicht kommen. Man wird sie daran erinnern, dass sie Sergei, Natalia, Alina, Katia sind. 

Quiet Life“ erzählt die Geschichte eines kafkaesken Albtraums. Der Antrag wird abgelehnt, die Familie soll abgeschoben werden. Der Familienverband gerät endgültig aus den Fugen, als die kleinere Tochter vor der Schule unvermittelt zusammenbricht, vermeintlich Opfer einer Vergiftung. Das Mädchen wird von den Behörden von den Eltern getrennt. Vernehmungen, Therapien, Erziehungsmaßnahmen. Menschen in den Händen eines Systems, die eigentlich versucht hatten, der Unmenschlichkeit eines Systems zu entkommen. Regisseur Avranas dekliniert die downward spiral konsequent durch, lässt die Verfolgten im nächsten Land wieder Verfolgte sein, ein Land wohlgemerkt, das sich über Jahrzehnte rühmen durfte, ein Hort der Liberalität zu sein. Als Mutter Natalia ihren beiden apathischen Töchtern eine DVD mit einer Zeichentrickversion von „Pippi Langstrumpf“ einlegt, fühlt sich das an wie der pure Hohn: Von der anarchischen Lebenslust und dem selbstverständlichen Stirnbieten aller Autoritäten einer Astrid Lindgren, Inbegriff schwedischer Lebenskultur, lässt sich hier nichts entdecken.

Der erste Film des griechischen Filmemacher Alexandros Avranas seit sieben Jahren, als er „Love Me Not“ im Wettbewerb des San Sebastián International Film Festival vorstellte, feierte seine Weltpremiere in den Orizzonti in Venedig und wird nun auf dem Filmfest Hamburg erstmals in Deutschland gezeigt. Es ist Avranas‘ größte Produktion bislang und auch sein erster Film, der außerhalb seines Heimatlands angesiedelt ist, in schwedischer, russischer und englischer Sprache gedreht, mit russischen und schwedischen Schauspielern besetzt. Als deutscher Koproduktionspartner der fünf beteiligten Länder sind Ulf Israel und Reik Möller mit der Senator Film Produktion an Bord. Als Basis der Geschichte dient ein real existierendes Krankheitsbild, das seit den späten Neunzigerjahren in Schweden tausende Kinder von Flüchtlingsfamilien befallen hat, das Child Resignation Syndrome. 

Daraus entwickelt Avranas allerdings eine dystopisch anmutende Geschichte, in ihren Grundzügen gar nicht einmal so anders als „The Assessment“, der ebenfalls in Hamburg gezeigt wird, eine kühl anmutende Allegorie über die Ohnmacht des Einzelnen, ein Spielball politischer Systeme zu sein. Nur dass Avranas die Hoffnung nicht aufgibt, an die Liebe der Eltern glaubt, die sich für ihre Kinder entscheiden, anstatt deren Situation zu nutzen, ihren Aufenthalt in Schweden so lange wie möglich auszudehnen. Und der im allerletzten Bild zumindest andeutet, was ganz am Anfang noch so greifbar schien: Alles wird gut. Stark sind hier die Hauptdarsteller, Chulpan Khamatova, an die man sich aus „Luna Papa“ und „Good Bye, Lenin!“ erinnert, und Grigoriy Dobrygin aus „A Most Wanted Man“ oder „Mein Sommer mit Sergej“. Sie erden ihre Figuren, deuten ihre wachsende Verzweiflung nur in leisen Gesten und ihrer Mimik an und sind dadurch noch überzeugender in einem Film, der es ihnen gleichtut: Da wird nichts ausgestellt, nichts forciert. Der Blick bleibt nüchtern, die Kompositionen sind streng und konzentriert, und doch entfaltet der Film seine Wirkung. 

Thomas Schultze