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„Man muss das Rad nicht immer neu erfinden“

Wer Herausforderungen annimmt, kann sie meistern. Mag eine Floskel sein, wurde beim International Film Distribution Summit aber eindrucksvoll belegt. Nicht zuletzt von jungen Verleihunternehmen, die in Zeiten ins Leben gerufen wurden, als die Abgesänge auf das Kino nicht hätten lauter sein können. Ein Streifzug durch einige der interessantesten Vorträge.

Speakerinnen und Speaker beim diesjährigen IFDS: Vladimir Kokh (KMBO), Pilar Toro (Filmin), Rüdiger Suchsland (Journalist), Maria Tanjala (Filmchain), Sophie Stejskal (Filmladen), Olimpia Pont Chàfer (IFDS-Programmer), Medhi Mimouni (Moviechainer), Katharina Günther (Plaion Pictures), Marie Regher (Filmladen), Daniel Melamed (New Cinema), Preisträger Gabriele D’Andrea (Lucky Red), Enrico Dirksen (Piffl Medien), Jen Davis (Conic), Benjamin Cölle (Pluto Film), Paul Rieth (Get Your Crowd), Kota Takada (Sundae), IFDS-Gründer Torsten Frehse, Dorothee Pfistner (IFDS-Programmer), Nikolas Friedrich (mm filmpresse) (Credit: International Film Distribution Summit)

Ein Branchentreff, der sich ausnahmsweise einmal nicht um die Förderreform dreht? Ist ja schon für sich genommen erfrischend, auch wenn die Gespräche spätestens am Abend dann doch auch immer wieder einmal in diese Richtung tendierten. Wobei sich die Meinungen zum aktuellen Stand der Reform (auch seitens derjenigen, die sie umzusetzen gefragt sind) im Grunde auf ein Wort reduzieren lassen: Wahnsinn.

Was die Förderreform nach aktuellem Stand jedenfalls auf gar keinen Fall tut – nämlich den Verleih angemessen in den Fokus zu nehmen – das wiederum hat sich der federführend von Torsten Frehse initiierte International Film Distribution Summit (IFDS) auf die Fahnen geschrieben. Auch im dritten Jahr mit einer starken Mischung aus Best-Practice-Beispielen, Case Studies und innovativen Lösungen bzw. Plattformen, die Verleihern die tägliche Arbeit effizienter zu gestalten versprechen, von der Abrechnungskontrolle bis zum Zielgruppentargeting.

Jen Davies, Co-CEO von Conic (Credit: SPOT media & film)

Vor allem aber ist der IFDS ein Ort des Austausches, des Blicks über den Tellerrand. Klingt abgedroschen? Mag sein. Aber wie Jen Davies als Co-CEO des noch jungen UK-Verleihs Conic sagte: Man muss das Rad nicht immer neu erfinden, ganz im Gegenteil. Gilt vielleicht auch für Formulierungen. Viele traditionelle Wege sind ihrer Ansicht nach jedenfalls immer noch gute Wege – allerdings auch solche, die mit begrenzten Budgets nur noch sehr ausgewählt zu beschreiten seien. Das beste „Preis-Leistungs-Verhältnis“ unter den möglichen Maßnahmen zu ermitteln: Das sei mittlerweile eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt. In einem Marktumfeld, zu dessen Einordnung Davies‘ Aussage bezeichnend war: „Wir mögen den Thrill!“ Doch auch wenn Nervenstärke tatsächlich zu den gefragtesten Kompetenzen bei einem unabhängigen Verleiher zählen mag, war Davies‘ Vortrag der vielleicht inspirierendste der zweieinhalb IFDS-Tage. Denn eine Branchengröße wie Park Circus zu verlassen, um quasi mit Ende der Pandemie die im Frühjahr 2022 geformte Idee der Gründung eines eigenen Verleihs umzusetzen – noch dazu eines Verleihs, der sich Filmperlen verschreibt, die „niemand sonst genommen hat“: Das ist als Glaubensbekenntnis an den Markt wohl nur schwer zu toppen. Ja, das Unternehmensmodell von Conic ist „skalierbar“. Zu Deutsch: Wenige Festangestellte, im Bedarfsfall viele Freelancer. Aber (diese Feststellung war Davies besonders wichtig) fair bezahlte Freelancer. Veränderungen gegenüber offen sein, Tradition trotzdem nicht in den Wind schießen – und disruptive Strategien im Köcher stecken lassen, wenn sie Partnern zu schaden drohen: Gutes Mantra. Eines, das auch ungleich größere Unternehmen in den vergangenen Jahren hätten beherzigen sollen, hieß es beim abendlichen Austausch nicht zuletzt mit Blick auf Paramount Global und jene News, die zum Abschluss des ersten IFDS-Tages wie eine Bombe eingeschlagen war.

„Zielgruppentargeting“ war, wie schon eingangs erwähnt, ein wiederkehrendes Thema bei diesem IFDS-Jahrgang – und man sollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, bei den Organisatoren die Auswertung zu den deutschen Letterboxd-Nutzern (immerhin schon 130.000 bei 15 Mio. globaler Basis) anzufordern, die Head of Business David Larkin zwar per Videoschalte vorstellte – aber leider selbst auf der großen Leinwand des Cineplex Köln zu klein eingeblendet, als dass man aus der vierten Reihe irgendetwas hätte erkennen können. Was die ursprünglich vor gut zehn Jahren in Neuseeland gegründete Plattform so erfolgreich macht? Wenn es nach Larkin geht: Letterboxd sei ein Ort, um die Liebe zum Film zu teilen – und nichts anderes. Was nicht heißt, dass Filme dort nicht abgewatscht würden (leider auch „Joker: Folie à Deux“…), dass dort keine grenzwertigen Kommentare zu finden wären. Aber straffe Moderation soll dafür sorgen, dass es – zumindest nach den Maßstäben der Social-Media-Welt – trotzdem ein „Safe Space“ für Cinephile ist. Oder künftig auch Serienfans. Denn Letterboxd wird sein Angebot bereits in den kommenden Monaten auf TV ausweiten, wie Larkin verriet.

Ganze sieben Mio. Nutzer allein in Japan hat die Review-App Filmarks, hinter der das Unternehmen Tsumiki steckt. Dort ging man den wohl konsequentesten Schritt bei der Nutzung der über eine derartige App generierten Daten, beendete Versuche, sie an Dritte zu verkaufen – und setzt sie nun seit gut einem Jahr exklusiv in Diensten eines eigenen neuen Verleihs namens Sundae ein, in Köln vertreten durch Head of Acquisition Kota Takada. „Unabhängige Filme zum Erfolg führen, indem man via Markenbildung eine Fanbasis aufbaut“. Ja, Sätze wie diese fielen in vielfältigsten Iterationen während des IFDS häufig. Und ja – an wenigstens einer Stelle durfte man sich dann doch zu fragen beginnen, ob die Zielgruppe, die mit Marketingbotschaften direkt zu erreichen man warb, nicht so spitz definiert war, dass sie genau jene Gruppe sein müsste, die gerade keine direkte Ansprache mehr benötigt. (Zitat aus abendlicher Runde: „Ab wie vielen Filmweckern ist denn dann genug?“) Ändert aber nichts daran, dass es für Sundae mit den ersten drei Titeln „Falcon Lake“, „How to blow up a Pipeline“ und „Speak No Evil“ (das Original, nicht das Remake) recht gut funktioniert zu haben scheint, sich Rechte auf Basis des anhand der Daten abzulesenden „Buzzes“ gesichert zu haben.

Kota Takada, Head of Acquisition bei Sundae (Credit: SPOT media & film)

Wobei mehr dazu gehört, um sich mit solchen Filmen in einem Markt zu behaupten, der sich seit der Jahrtausendwende radikal verändert hat. 2000 gab es laut Kota Takada 1401 Arthouse-Leinwände in Japan, 2023 waren es nur noch 409. Und während sich die Umsätze vor knapp einem Vierteljahrhundert zu 30 Prozent auf lokale und 70 Prozent auf internationale Titel (vor allem aus den USA) verteilten, hat sich dieses Verhältnis 2023 umgekehrt – nicht zuletzt dank großer Animations- bzw. Animé-Erfolge, auf die allein die Hälfte der Ticketumsätze für einheimische Filme entfiel. Ideen wie die Platzierung des Filmposters von „Speak No Evil“ in einem Indie-Horrorgame helfen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Aber um zu illustrieren, wie wichtig die Verarbeitung der Daten ist: Laut Takada sind 20 von 60 Mitarbeitenden bei Tsumiki in der Datenanalyse tätig. Fünf beim Verleih…

Ein Fan klarer Worte ist wiederum Vladimir Kokh vom französischen Verleih KMBO, der einen starken Fokus auf Animationsproduktionen für Familien und Kinder legt. Kritiker? Schätze er an sich durchaus – für Kinderfilme seien sie „nutzlos“. Screener oder gar ein Pressescreening gibt es bei KMBO für einen Film wie „Alles für die Katz“ nicht, für das gesamte Kinder- und Jugendsegment beschäftige man keine PR-Agenten. Und Influencer-Marketing oder prominente Synchronstimmen für Kinderfilme? Wiederum „nutzlos“. Großen Wert legt Kokh hingegen auf „ordentliche Poster“. Gerade an der Stelle solle man nicht sparen und sich auch nicht einfach auf internationale Entwürfe verlassen, sondern lieber noch einmal selbst Hand anlegen.

Ganz und gar nicht nutzlos sei hingegen die direkte und enge Kooperation mit Schulen, die KMBO nicht zuletzt in Form eines eigenen Printmagazins mit 20.000er-Auflage pflegt. Das übrigens Filmen anderer Verleiher ebenso Raum bietet wie ein von KMBO ins Leben gerufenes Kinderfilmfestival, das sich zwischen Juni und August in 600 teilnehmenden Kinos abspielt und 2024 ganze 150.000 Besuche verzeichnete.

Gewinnender Einstieg: Zum Warm-Up des IFDS wurde unter anderem auf die Verleihstrategien hinter „Anatomie eines Falls“ geblickt (Credit: SPOT media & film)

Während sich Lucky Red, wie bereits Ende September berichtet, über den Best International Innovation Distribution Award freuen durfte (den Director of Marketing and Theatrical Distribution Gabriele D’Andrea entgegennahm), vergeben wir einen eigenen Preis – für den am häufigsten zu hörenden Appell beim diesjährigen IFDS. Jenen, näher an das Publikum heranzutreten, enger mit den Zielgruppen zu arbeiten, Community-Building zu betreiben und sich damit letztlich selbst als Marke zu positionieren, wie das US-Indies wie A24 und Neon durchaus bis zu einem gewissen Grad gelingt. Oder auch einem Player wie den Angel Studios. Ein Beispiel, mit dem man sich tatsächlich gerne länger aufgehalten hätte. Gerade aufgrund der Tatsache, dass jenes Modell, das für den immensen Erfolg von „Sound of Freedom“ mitverantwortlich war, danach erst einmal keine nennenswerten Ausreißer mehr hervorbrachte. Denn auch das wäre es wert, gezielt unter die Lupe genommen zu werden: Dinge, die nicht (mehr) funktionieren. „Worst Practice“ statt „Best Practice“ also – aber finde dafür mal Speaker…

Eine „Bad Practice“ wurde dann aber doch ins Rampenlicht gerückt – allerdings durch jene, die ihr begegnen wollen. Nun mögen die grundlegenden Bedingungen in Deutschland ein wenig andere sein als in Kenia, wo sich die Filmpiraterie wegen der vergleichsweise hohen Kosten von Internetverbindungen nach wie vor auf den Verkauf entsprechend bespielter Sticks fokussiert, wie dies Mike Strano, Co-Gründer der VoD-Plattform Yakwetu, schilderte. Aber interessant war allemal, wie man dort versucht, Konsumenten für erschwingliche legale Alternativen zu begeistern. Dass nicht zuletzt auf Ebene der von Strano mitbegründeten „Partners Against Piracy Association of Kenya“ immer und immer wieder auch auf Basis wirtschaftlicher Zahlen argumentiert wird, versteht sich von selbst. Und noch eindrucksvoller als ein Schaden von rund 795 Mio. Dollar, der der kenianischen Volkswirtschaft Jahr für Jahr durch Online-Piraterie entsteht, ist vielleicht das Potenzial von über 50.000 Jobs, das sich laut Strano bei einem erfolgreichen Vorgehen gegen Filmpiraterie realisieren lasse. Was beim abendlichen Austausch dann doch auch wieder zu Fragen rund um die hiesige Förderreform führte: Welches Jobpotenzial steht denn da eigentlich auf der Kippe?