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REVIEW FILMFEST HAMBURG: „Liebe“

Ebenso tiefschürfende wie humorvolle Betrachtung, wie bei einer Ärztin und eines Pflegers in Oslo Liebe, Sex und Träume Einfluss auf ihr Leben nehmen.

CREDITS:
Originaltitel: Kjærlighet; Land / Jahr: Norwegen 2024; Laufzeit: 119 Minuten; Regie und Drehbuch: Dag Johan Haugerud; Besetzung: Andrea Bræin Hovig, Tayo Cittadella Jacobsen, Marte Engebrigtsen, Lars Jacob Holm, Thomas Gullestad; Verleih: Alamode; Start: 2025

REVIEW:
Sex. Träume. Liebe, Alle drei Worte werden eingeblendet. Dann fällt „Sex“ weg, danach „Träume“. Es bleibt „Liebe“. Titel des dritten Films der „Sex, Liebe, Trilogie“ des norwegischen Schriftstellers und Autorenfilmemachers Dag Johan Haugerud, obwohl auch in ihm, wie schon in „Sex“, der im Februar Weltpremiere im Wettbewerb der Berlinale gefeiert hatte, alle drei Begriffe eine zentrale Rolle spielen. Nur eben etwas anders gewichtet und, sieht man von einer Nebenfigur ab, die die drei Filme verbindet, mit komplett neuem Personal vor und unverändertem Personal hinter der Kamera. Auch das Format ist anders – 1.85:1 anstatt die 2,35:1-Kompositionen von „Sex“. Und während auch Oslo wieder der Schauplatz ist, liegt der Fokus diesmal auf einem anderen Teil der Stadt, nicht die Neubauviertel, in denen neue Wohnblöcke hochgezogen werden, die die Hauptstadt Norwegens nachhaltig verändern, sondern das alte Oslo, versinnbildlicht durch das Rathaus vor den Toren des Hafens – dahinter öffnet sich die Innenstadt. 

„Liebe“ von Dag Johan Haugerud (Credit: Motlys K1)

Mit dem Rathaus beginnt „Liebe“. Hier hält Heidi einen Vortrag über die diversen Skulpturen und Fresken an dem Gebäude und versucht die Geschichte Norwegens in einen sexuellen Zusammenhang zu setzen: Für ein großes Stadtfest schwebt ihr eine Feier sexueller Offenheit vor, hat damit Schwierigkeiten, bei Kollegen und Komitees durchzusetzen. Vor allem aber ist der Vortrag eine Ouvertüre für den Film, den Dag Johan Haugerud als leichte Comedy of Manners konstruiert hat, um in langen Gesprächen der Figuren Möglichkeiten und Utopien des menschlichen Zusammenseins unabhängig gesellschaftlicher Norman zu diskutieren: Seine Dialoge machen süchtig. Erwachsene Menschen, die sich über wesentliche Dinge des Lebens unterhalten, ohne jemals die Stimmen zu erheben: sachlich, neugierig, klug, fragend. Und die versuchen, sich einen Reim darauf zu machen, was uns ausmacht, wie Sex, Träume und Liebe zentrale Triebfedern sind für das, was uns ausmacht, was uns antreibt, was uns glücklich macht und traurig, wie wir unser Leben führen, ob selbstbestimmt oder gesteuert von äußeren Einflüssen.

Schnell richtet „Liebe“ den Fokus auf Heidis beste Freundin Marianne, eine Ärztin in der Onkologiestation eines Osloer Krankenhauses, und den Pfleger Tor, die zunächst nur ihr Job zu einen scheint, ihr Bemühen um männliche Patienten, denen sie beibringen müssen, dass sie Krebs haben und welche Chancen sie sich ausrechnen können. Später werden sich die beiden abends auf eine Fähre treffen, wo sie erstmals außerhalb des Berufs ins Gespräch kommen. Marianne ist Single und würde sich wünschen, ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben zu können, ohne sich gleich wieder auf eine Beziehung einzulassen, ohne Komplikationen und Verpflichtungen. So wie Tor, der regelmäßig auf der Fähre ist, um schnellen Sex mit anderen Männern zu haben. Das ist der Ausgangspunkt für die Reisen der beiden Hauptfiguren: Tatsächlich hat Marianne ein sexuelles Abenteuer, das ihr wiederum den Mut gibt, den Avancen eines geschiedenen Geologen nachzugeben. Tor wiederum lernt auf der Fähre den Psychologen Bjørn kennen, ohne dass es zum Sex kommen würde: Später sieht er Bjørn wieder, als Patienten in der Onkologiestation, was wiederum den jungen Pfleger mit den langen Haaren einen Weg einschlagen lässt, den er kurz davor gewiss niemals in Betracht gezogen hätte.

„Liebe“ von Dag Johan Haugerud (Credit: Alamode)

Beide Geschichten sind plausibel und glaubwürdig, faszinierend und inspirierend. Aber Haugerud lässt auch nie einen Zweifel daran, dass es sich um Versuchsanordnungen handelt, um durchzuexerzieren, was ihm durch den Kopf geht, eine Utopie, wie man sein Leben auch führen kann, ohne sich immer gleich von Normen und Regeln unter Druck gesetzt zu fühlen. Man könnte den Ansatz des Filmemachers als reversen Bergman bezeichnen. Während Bergman in seiner späteren Phase stets Situationen herbeiführte, in denen sich die Figuren gnadenlos die Wahrheit sagen und damit sichere Konfrontation und Eskalation auszuloten, ist Haugerud genau diese Offenheit Grundlage für gegenseitiges Verständnis, das Bemühen um einen Ansatz, einander auf Augenhöhe begegnen zu können. Das ist in „Liebe“ weniger radikal als noch in „Sex“, was wohl auch auf die Figuren zurückzuführen ist, die eine klarere Vorstellung davon haben, was sie wirklich wollen, ohne allerdings genau zu wissen, wie es zu erzielen ist. 

Als Zuschauer:in hängt man an den Lippen der Figuren – zumindest mir ging es so. Haugerud drischt keine Phrasen, er forscht und interessiert an tatsächlichem Fortschritt, abseits von ermüdenden und reduktiven Diskussionen um Identität und sexuelle Orientierung. Der Puls des Films ist niedrig, die Szenen sind lang, die Kamera bleibt über weite Strecken statisch. Wenn sie sich dann aber bewegt, dann fällt es auf. Speziell in dem einen Moment, als Marianne die Fähre verlässt, die Kamera zunächst unbewegt ihren Blick auf die Fähre richtet und sich ihr dann sprunghaft nähert, als wäre auf einmal der Film selbst eine weitere Figur und wolle zurück auf die Fähre, zurück zu dieser Situation. Das macht „Liebe“ eben auch aufregend: Wenn es dem Filmemacher schon nicht gelingt, Abstand zu wahren, wie soll es dann dem Publikum gelingen, wenn man diesem Film begegnet, der ist wie ein alter Freund, auf den man sich gefreut hat, weil alles, was er zu sagen hat, so interessant und unendlich anregend ist. 

Thomas Schultze