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REVIEW KINO: „Der Buchspazierer“

Beschwingtes modernes Märchen nach Bestsellervorlage über einen kauzigen Alten, dessen Alltag als Lieferant von Literatur durchgewirbelt wird, als sich ein patentes Mädchen an seine Seite gesellt und kaum mehr von ihm weicht.

CREDITS:
Land / Jahr: Deutschland 2024; Laufzeit: 98 Minuten; Regie: Ngo The Chau; Drehbuch: Andi Rogenhagen, Besetzung: Christoph Maria Herbst, Yuna Bennett, Ronald Zehrfeld, Edin Hasanovic, Maren Kroymann, Hanna Hilsdorf, Tristan Seith; Verleih: Studiocanal; Start: 10. Oktober 2024

REVIEW:
Das Konfekt ist längst nicht so schlecht wie sein Ruf, der ihm nachsagt, es sei nicht nahrhaft, nicht gesund, und es mache träge und fett. Dabei schmeckt es vorzüglich, macht glücklich und ist zumindest als Seelennahrung unübertroffen, solange man sich nicht überfuttert. Nehmen wir „Der Buchspazierer“. Ngo The Chaus Adaption des Bestsellers Carsten Sebastian Henn ist ein solches Konfekt, ein Praliné, eine süße Nichtigkeit, ein Crowdpleaser mit so lauter Ansage, dass man sie selbst hinter der, zugegeben, allzu zuckersüßen Musik (Achtung, schwerer Oboen- und Klarinettenalarm!), noch vernehmen und sich zu Herzen nehmen kann, wie es auch dieser entzückende kleine Film tut. Das Drehbuch von Andi Rogenhagen weiß genau, was es da macht, ein Märchen mit Lebkuchenhaus-Anmutung ohne Bedrohung, dunklen Wald oder deutsch-romantischer Melancholie – einfach nur eine Geschichte, die nicht den Glauben an die Menschheit verloren hat und sich um diesen Glauben versammelt wie um ein Kaminfeuer, von dem wohlige Wärme ausgeht. 

„Der Buchspazierer“ (Credit: Studiocanal)

Ein bisschen fühlt man sich erinnert an Aron Lehmanns „Was man sieht, wenn man…“, allerdings ohne dessen Hang zu Skurrilität und längst nicht so kompliziert erzählt. „Der Buchspazierer“ geht gemütlich von A nach B, er schlendert, ach was, er spaziert, buchstäblich, mit seiner Hauptfigur, ein wunderlicher und liebenswerter Kauz namens Carl Kollhoff, ein unscheinbarer Zeitgenosse, der es vorzieht unsichtbar zu bleiben, allein mit sich und seinen Büchern zuhause, eine riesige Sammlung, die er komplett mehrfach gelesen hat und frei zitieren kann, als sei er selbst das gesamte literarische Wissen der Welt. Es ist nicht so, dass er Menschen nicht mag. Im Gegenteil eigentlich. Jeden Tag macht er sich auf den Weg, Bücher im örtlichen Laden abzuholen, fein säuberlich zu verpacken und dann bei seinen Stammkunden im Dorf abzuliefern. Jedem von ihnen hat er einen Spitznamen gegeben: Mr. Darcy nennt er den einsamen Millionär des Städtchens, Effi die junge alleinstehende Frau, die am liebsten tragische Romane mag, Frau Langstrumpf eine reservierte ältere Dame, Herkules einen Muskelmann, der sich am liebsten erst einmal die Handlung der Bücher von Carl erzählen lässt.

Christoph Maria Herbst als Carl Kollhoff in „Der Buchspazierer“ von Ngo The Chau (Credit: Studiocanal)

Es ist ein Ritual, das stets gleich verläuft. Und auch ewig so weiter verlaufen könnte, ein stetiger, ruhiger Fluss, wie es in der Erzählung aus dem Off heißt, wenn nicht Veränderung auch in dieser Fabelgemeinde die einzige Konstante wäre. Der Buchladen wechselt den Besitzer und soll künftig moderner, praktischer, effizienter sein, wie das heute gerne mal so ist, auch wenn das heißt, dass aus der neuen modernen, praktischen, effizienten Ausrichtung Carl Kollhoff heraussticht wie ein wunder Daumen: Weg damit! Vor allem gesellt sich sehr zu seinem Missfallen das Mädchen Schascha an die Seite des Buchspazierers, die Bücher ebenfalls über alles liebt: Sie erinnern die geschätzt Zwölfjährige an ihre verstorbene Mutter, die ihr immer vorgelesen hatte. Die Konstellation ist ein bisschen wie in dem Pixar-Film „Oben“, wo die Welt des Helden im fortgeschrittenen Alter (der im übrigen auch Carl heißt) von einem nervigen Pfadfinder durchgeschüttelt wird, der sehr zu seinem Missfallen nicht mehr von seiner Seite weicht. Während „Oben“ seine Helden buchstäblich abheben und an tausenden Luftballons ins Abenteuer entschweben lässt, erfüllt in Ngo The Chaus Film die Annäherung der beiden Außenseiter diese Funktion, um die Wiedermenschwerdung von Carl Kollhoff geht es, um die Kraft des Erzählens, der Bücher, Menschen zu verbinden und zusammen zu bringen, wenn man denn nur bereit ist, den ersten Schritt zu machen. 

Christoph Maria Herbst als Carl Kollhoff in „Der Buchspazierer“ von Ngo The Chau (Credit: Studiocanal)

Das steht und fällt mit den Schauspielern. Christoph Maria Herbst ist natürlich die Hauptattraktion, weicht betont ab von den pedantischen und innerlich angespannten Zwangscharakteren, die er sonst so souverän spielt, sondern zeigt eine Wärme hinter der ruppigen Schale, als würde er sich bewerben als deutsche Version von Tom Hanks, ganz viel „Ein Mann namens Otto“, ein bisschen „Won’t You Be My Neighbor“, eine Prise „Saving Mr. Banks“. Aber die Entdeckung ist hier Yuna Bennett als Schascha, die in der Tat – wie es im Film gesagt wird – eine frische Brise mitbringt, die eher ein Wirbelwind ist. Die Zwölfjährige war schon in „Das Signal“ bemerkenswert, hier schmeißt sie den ganzen Film. Und behauptet sich nicht nur gegen Herbst, sondern auch all die anderen namhaften Schauspieler, die „Der Buchspazierer“ ihren Stempel aufdrücken: Ronald Zehrfeld als überforderter Papa, Edin Hasanovic (im Rudolf-Moshammer-Gedächtnislook zwischen Elvis und Ludwig II), Maren KroymannHanna Hilsdorf und Tristan Seith als zuverlässige Bücherempfänger. So setzt sich ein schön bebilderter (Regisseur Chau führt ihn seinem Kinoregiedebüt selbst die Kamera), stimmungsvoll ausgestatteter (Kostümbild: Marita Hoffjann, Minsun Kim; Szenenbild: Gabriella Ausonio), beschwingt produzierter (Daniel Hartmann und Bjoern Vosgerau) Film zusammen, der bittersüß ist, ganz zart und zärtlich, und immer weiß, dass er ein Konfekt sein will, die beste Art von Seelennahrung. Ein Film mit FSK 6, aber eher für Erwachsene, die im Herzen FSK 6 geblieben sind.

Thomas Schultze