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Ramon und Silvan Zürcher über „Der Spatz im Kamin“: „Wie in einem Dampfkochtopf“

Mit „Der Spatz im Kamin“ beschließen die Schweizer Filmemacher Ramon und Silvan Zürcher ihrer sogenannte Tier-Trilogie. Weltpremiere feierte das großartige Ensemblestück im Wettbewerb des Locarno Film Festival. Eben dort trafen wir die Zwillingsbrüder, die in ihren Filmen virtuos menschliches Beisammensein unterm Brennglas sezieren.

Silvan Zürcher, Ramon Zürcher (Credit: Locarno Film Festival/ Ti-Press)

Wie absurd ist das bitte: Mit „Der Spatz im Kamin“ beschließen Sie Ihre Tier-Trilogie über menschliches Beisammensein. Wie passt das zusammen?

Ramon Zürcher: Ich finde es interessant, im Titel etwas für die Geschichte eher Unscheinbares zu nennen und dies dadurch zu highlighten. Wenn man das Thema, den Kern, im Titel herausstellt, ist es gewissermaßen preisgegeben. Aber wenn man etwas anderes in den Mittelpunkt rückt, gibt es sofort ein Wieso? Eine feine, produktive Irritation. Und zudem ist es gar nicht so absurd, zumal der Mensch ja auch Teil der Tierwelt ist. Innerhalb unserer Tier-Trilogie werden das Tier „Mensch“ und seine Beziehungen fokussiert und andere Tierarten ergänzen dieses Gruppenbild. Es gibt vor allem Katzen und Hunde. Diese dienen mitunter als Zeugen der Geschehnisse. Die drei Filme tragen unterschiedliche Tiere im Titel, die wir assoziativ stimmig für den jeweiligen Film fanden.

Als da wäre das Kätzchen…

Ramon Zürcher: Das Kätzchen fand ich wichtig für die Familie. Die Katze als ehemals wildes, inzwischen domestiziertes Tier, passte gut in die Gefängnishaftigkeit eines bürgerlichen Familienkörpers. Die Katze atmet durchaus noch das Wilde eines Raubtiers. Andererseits ist sie durch die Domestizierung abhängig, unfrei geworden. 

Dann die Spinne…

Ramon Zürcher: Die Spinne ist freier. Durch den Auszug der einen Mitbewohnerin in der Geschichte ist eine erste größere Bewegung in den filmischen Raum gekommen. Es geht um Umzug, neue Wohnungen, neue Lebensräume. Eine Spinne kann überall ihr Netz spinnen, in Innenräumen, in Außenräumen. Sie ist eine Wanderin, die Dinge verwebt, wie auch die Figuren in „Das Mädchen und die Spinne“ miteinander verwoben werden. Wir wurden oft gefragt, was die Symbolik der Tiere für die jeweilige Geschichte ist. Uns ging es weniger um eine starre Symbolbedeutung, als um das Öffnen von Assoziationsräumen – und diese Räume können unter den Zuschauer:innen natürlich variieren.

Und beim dritten Film, gibt es nun ein Tier, das fliegt. Sogar mehrere…

Ramon Zürcher: Genau. Hier geht es um Freiheit, um eine Art Befreiung.

Silvan Zürcher: In allen drei Filmen wird der Fokus auf das Menschliche und Allzumenschliche gelegt. Auf menschliche Beziehungen, vor allem auch auf die Schattenseiten von Beziehungen. Es geht um passiv-aggressives Verhalten, wir beleuchten toxische Aspekte und Abgründe. Das hat uns immer schon begleitet, seit unser Bewusstsein wacher wurde, wir also angefangen haben, mit wacherem Blick auf Familien, auf Nachbarsfamilien und überhaupt auf Beziehungen zu schauen. Dieser Aspekt ist unmissverständlich das Zentrum der drei Filme. Die Tiere sind eine poetische Anreicherung, ein Vehikel, um diesen Kosmos aufzubrechen, um Bedeutungsebenen zu erweitern, um Assoziationswelten zu eröffnen. 

„Der Spatz im Kamin” (Credit: Zürcher Film)

Bei „Der Spatz im Kamin“ wird alles auf den Tisch gelegt. Es wird mit nichts hinterm Berg gehalten. War diese Steigerung bewusst gewählt?

Ramon Zürcher: Am Anfang der Stoffentwicklung von „Der Spatz im Kamin“ war mein Grundinteresse, meine Neugierde, wie es ist, wenn man Konflikte nicht mehr unterdrückt gestaltet, Figuren nicht mehr unterdrückte Konflikthaftigkeit leben lässt. Wenn alles Konflikthafte nicht mehr in der passiv-aggressiven Atmosphäre verhaftet bleibt, sondern tatsächlich ausgetragen wird. Beim „Spatz“ sollte es nicht so sein wie beim „Kätzchen“, wo eine konstante Grundanspannung wie in einem Dampfkochtopf schwelt. Diese Grundanspannung gibt es beim „Spatz“ zwar auch. Aber die inhaltliche Frage war eher: Wie interagieren Menschen, wenn Konflikte tatsächlich ausgetragen werden? Diese direkten Messerspitzen mögen auf den ersten Blick brutaler erscheinen, sind sie auch. Aber vielleicht sind sie auch Teil einer Heilung. Weil alles sichtbarer ist, ausgetragen wird. 

Es geht um das unterschiedliche (Aus)leben von Konflikthaftigkeit.

Silvan Zürcher: Genau. Zugespitzt, kondensiert. Wir sind ja keinem Naturalismus verpflichtet. Durch die Form, die wir wählen, haben wir die Freiheit, den Figuren Sätze in den Mund zu legen, die in dieser Schärfe aber auch in dieser Frequenz im familiären Alltag so nicht stattfinden würden. Wir hatten einerseits Lust, die Konflikte explizit zu gestalten und nicht in einer schwelenden Atmosphäre zu belassen, andererseits auch sie zu verdichten. In der Kunst sind Zuspitzungen möglich und erlaubt. Man kann Dinge unter dem Brennglas betrachten, vergrößern, sichtbar machen. 

Wie sieht Ihre Zusammenarbeit aus? Bei „Das Mädchen und die Spinne“ waren Sie, Silvan, Ko-Regisseur und Ko-Drehbuchautor. Beim „Spatz“ sind Sie „nur“ Produzent. Wann entscheiden Sie, in welcher Konstellation Sie zusammenarbeiten?

Silvan Zürcher: Das ist von Film zu Film unterschiedlich, es gibt keine festen Regeln. Im Fall von „Der Spatz im Kamin“ war es so, dass Ramon das Drehbuch geschrieben hat und ich der erste Leser war, der Feedback gegeben hat. Das ist immer so: Wir sind uns gegenseitig jeweils der erste Leser, der erste Spiegel, das erste Feedback. Sobald dieses Potenzial ausgeschöpft ist, holen wir weitere Personen dazu.

Photocall in Locarno (v.l.) Britta Hammelstein, Andreas Döhler, Maren Eggert, Silvan Zürcher, Ramon Zürcher, Lea Zoe Voss, Milian Zerzawy (Credit: Locarno Film Festival / Ti-Press)

Aber es gab doch sicherlich auch Lernprozesse?

Silvan Zürcher: Bei „Mädchen und die Spinne“ hatte ich das erste Drehbuch geschrieben und Ramon kam dann bei den weiteren Fassungen dazu. Das war eine Suche. Wir haben hier ausprobiert, zusammen zu schreiben, mussten aber erkennen, dass es für uns nicht produktiv ist, wenn beide gleichzeitig in der Verantwortung stehen. Der Effekt ist nämlich, dass wir uns beide nicht zu 100 Prozent zuständig fühlen und zu nachläßig werden. Einer muss im Cockpit sitzen und wissen, dass er die Verantwortung trägt. Das bezieht sich nicht nur aufs Drehbuchschreiben, sondern auch auf alle anderen Arbeitsbereiche in der Filmherstellung. Wir müssen die Aufgaben einfach nur klar aufteilen.

Worin liegen die Stärken des jeweils anderen? Kann der eine etwas besser als der andere? Funktionieren Sie nur im Duo?

Ramon Zürcher: Früher haben wir uns oft so gelabelt, dass ich mehr der Intuitive bin, der assoziativ Arbeitende, jemand, der nicht immer der Logik verpflichtend an Dinge herangeht, freier in der Herangehensweise ist.

Silvan Zürcher: Du hast ja neben Regie auch bildende Kunst studiert.

Ramon Zürcher: Genau. Silvan wiederum hatte das Label, der Analytischere zu sein, mit der Vernunft, der Logik gestaltend, dem Strengeren, Formelleren zuneigend. Aber ich habe das Gefühl, dass diese Grenzen, Trennungen in den letzten Jahren eher fluide geworden sind, nicht mehr existieren. Ich sehe uns eher als Teppich, wo das eine wie das andere gleich stark hineingewoben ist.

Ramon Zürcher (Credit: Zürcher Film)

Sie arbeiten gerne mit Kontrasten. Die erzählte Geschichte der Familie passt nicht zum gezeigten idyllischen Setting, die Musik springt von lieblich zu peitschend… 

Ramon Zürcher: Ja. Auch die Kamera von unserem langjährigen Wegbegleiter Alex Hasskerl wechselt zwischen Statik und Bewegung. Auf der Ebene der Musik treten Kontraste zu Tage. Einerseits erklingt eine komponierte Filmmusik, die eher etwas Warmes, Weiches artikuliert – ein Kontrast zur Gefühlskälte und -schärfe innerhalb der Familie. Doch ebenfalls im Kontrast zu dieser warmen, von Cello getragenen Musik erklingen in bestimmten Szenen laute Elektrobeats, die etwas Treibendes, Verrücktes vermitteln…

Silvan Zürcher: Dieser treibende Elektrobeat hat etwas Monströses. Wir denken auf formaler Ebene in vielen Dingen in Kontrasten. Bei der Musik gibt es das Liebliche und das Monströse, im Bild gibt es Chaos und Ordnung, es gibt sommerliche Idylle, das Paradiesische, ein Haus, in dem jeder sofort wohnen wollen würde. Dann aber auch wieder die Abgründe und toxischen Stimmungen zwischen den Menschen. Familiendramen oder schwierige Themen werden in Filmen oft in deprimierende Grautöne gefasst. Wenn man schwierige Themen jedoch nicht kontrastiert, sondern durch die weiteren Stilmittel eher ergänzt, wird es zuweilen illustrativ. Da wird nichts hinzugefügt, man doppelt nur, unterstreicht. Wir arbeiten gerne mit Kontrasten, Oppositionen, weil dann neue Räume eröffnet werden, eine Bereicherung stattfindet.

Wie geht es weiter? Planen Sie die nächste Trilogie?

Silvan Zürcher: Nein! Was jetzt kommt, denken wir bestimmt nicht als Trilogie. Das wäre eine zu große Last. Man wüsste, dass man für die nächsten 15 Jahre inhaltlich an ein Projekt gebunden wäre. Wir setzen uns zwar schon gerne eine Aufgabenstellung, aber als nächstes kommen Projekte, die unabhängig voneinander gedacht sind. Wir entwickeln jeweils einen eigenen Stoff. In diesem Prozess befinden wir uns. Wie diese jeweils umgesetzt werden, wie wir uns aufstellen werden, haben wir noch nicht festgelegt. In erster Linie freuen wir uns auf die Freiheit, dass alles möglich ist. Denn in der Trilogie hatten wir uns auf eine gewisse Formsprache festgelegt und jetzt ist theoretisch für die kommenden Projekte alles offen. Darauf freuen wir uns.


Das Gespräch führte Barbara Schuster