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LOCARNO-Snapspot: Es war gut

Locarno77 ist Geschichte. Tolle zehn Tage hat man verlebt. Als Cineast. Als Filmliebhaber. Als Sonnenanbeter. Und als Teil einer Filmbranche, die teils auch wegen der Affenhitze zusammenrückte und das Gespräch suchte: Geteiltes Schwitzen ist halbes Schwitzen. 

Giona A. Nazzaro überreicht Jane Campion den Pardo d’Onore Manor (Credit: Locarno Film Festival / Ti-Press)

Ob er denn zufrieden sei, fragen wir Giona A. Nazzaro, als wir ihn zum Ende von Locarno77 noch einmal treffen. Er sei nie zufrieden, er sei Italiener, antwortet der künstlerische Leiter des Locarno Film Festival. Glücklich vielleicht? Auch nicht. Aber gut sei es gewesen, räumt er ein, als er unsere enttäuschten Gesichter sieht: Kann dieser Mann sich denn nie freuen? Immerhin. Aus dem Munde des immer kritischen und über die Maßen selbstkritischen Nazzaro will das schon was heißen. Ein gutes Festival, ein guter Jahrgang, ein gutes Locarno. Das kann man unterschrieben. Das war es.

Viele Parameter trugen dazu bei, nicht zuletzt das Wetter, das zwar über Tage hinweg so drückend und heiß war, dass man sich im kollektiven Schwitzen vereint fühlte – siehe den zweiten LOCARNO-Snapspot von Barbara Schuster. Der Vorteil daran war: Nicht ein Abend auf der Piazza Grande fiel ins Wasser. Was hat man da schon für Tragödien erlebt: Wenn es regnet in Locarno, dann richtig und oft aus heiterem Himmel. Davon blieb man diesmal verschont: Jeder Abend hatte ideales Piazza-Grande-Wetter. Jeden Abend war die größte Kinofreiluftarena der Welt mit 6000 Besuchern bis auf den letzten Platz belegt. Gut.

Saulė Bliuvaitė gewinnt für „Toxic” (Credit: Locarno Film Festival / Ti-Press)

Giona A. Nazzaro hatte im SPOT-Interview im Vorfeld des Festivals angekündigt, er wolle in diesem Jahr ein Festival veranstalten, das den Dialog sucht. Nicht mehr so strikt wie einst sollte die Auswahl getrennt sein zwischen dem als künstlerisch stets höchst ambitionierten Wettbewerb und dem publikumsträchtigeren Angebot auf der Piazza Grande. Sofern sich das aus unserer Sicht beurteilen lässt, ist das Konzept aufgegangen. Es war tatsächlich ein Fest des Kinos. Viele der Filme, die in Locarno liefen, so realistisch muss man sein, wird man so schnell andernorts nicht wiedersehen, zumindest nicht im kommerziellen Kino. 

Wer hat den letztjährigen Gewinner gesehen, „Critical Zone“ von Ali Ahmadzadeh, wer den Gewinner von 2022, „Rule 34“ von Julia Murat? Ob der diesjährige Gewinner, „Toxic“ von Saulė Bliuvaitė, der noch drei weitere Preise gewinnen konnte, einen deutschen Verleih und einen deutschen Kinostart erhalten wird und ob er dann ein großes Publikum erreichen wird, ist ungewiss. Aber es ist auch nachrangig: Der Preis in Locarno an sich ist entscheidend, das sichert der Filmemacherin internationale Aufmerksamkeit, öffnet ihr Türen. Darauf kommt es an. Das ist die Magie und Power von Locarno, das hebt das Schweizer A-Festival von den anderen Platzhirschen ab, verleiht ihm Profil an der Seite von Cannes, Venedig, Berlin und Karlovy Vary. 

Kurdwin Ayub (Credit: Locarno Film Festival / Ti-Press)

Es war wieder ein gutes Jahr für deutschsprachige Filmemacher: „Mond“ von Kurdwin Ayub (hier unsere Besprechung und hier unser Interview mit der Österreicherin) konnte sich den Special Jury Prize sowie drei weitere Auszeichnungen sichern. Leer aus gingen indes „La mort viendra“ von Christoph Hochhäusler (hier unsere Besprechung), „Transamazonia“ von Pia Marais (hier unsere Besprechung) und „Der Spatz im Kamin“ von den Zürcher-Zwillingen (hier unsere Besprechung) – alle drei erklärte Favoriten der SPOT-Redaktion. Und auch „Der Fleck“ von Willy Hans, der im Concorso Cienasti del Presenti lief, war ebenfalls stark (er erhielt eine besondere Erwähnung beim Pardo Verde). Sie alle haben einen deutschen Verleih und werden in Deutschland ins Kino kommen. Yay. 

Und dann haben natürlich auch die Ehrenpreisträger gepasst – nicht nur die Hauptpreise des Wettbewerbs gingen an weibliche Filmemacher. Stacey Sher setzte zu Beginn des Festivals Akzente als legendäre Independent-Produzentin der Neunzigerjahre (hier unser Interview mit ihr). Und dann natürlich zum Abschluss des Festivals Jane Campion, zweite weibliche Regieoscar-Preisträgerin, Cannes-Gewinnerin und nun auch ausgezeichnet mit dem Pardo d’Onore, als vierte Frau bislang. Sie stand der Presse zwar nur für eine Pressekonferenz zur Verfügung, aber hey, was für eine Ausstrahlung! Und immer noch besser als Alfonso Cuarón, den man natürlich gerne gesprochen hätte, der aber nur für eine Masterclass zur Verfügung stand. Hat wohl auch damit zu tun, dass er in zwei Wochen in Venedig seine erste Serie vorstellen wird, „Disclaimer“ mit Cate Blanchett. 

Nun werden wir sehen, wie die Nachlese beim Festival selbst ausfallen wird, ob tatsächlich an den Stellschrauben gedreht und ein neuer Termin gesucht wird. Radikal wäre diese Verschiebung ohnehin nicht – ein oder zwei Wochen weiter nach vorn, um den in diesem Jahr zugegeben geringen Abstand zu Venedig zu gewährleisten. Aber erstens ist das nicht so leicht, weil diese Termine zumindest die nächsten zwei Jahre schon feststehen und erst einmal vom Festivalkomitee abgesegnet werden müssten, und zweitens ist der Abstand im kommenden Jahr ohnehin schon wieder größer. Also mal sehen. Das erste Jahr unter der neuen Präsidentin Maja Hoffmann ist Geschichte. Und wenn es den Festivalchef Giona A. Nazzaro schon nicht zufrieden oder gar glücklich gemacht hat (er mag auch kokettiert haben), so steht doch fest: Es war gut. Wir freuen uns auf Locarno78. 

Aus Locarno berichtet(e) Thomas Schultze.