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REVIEW FILMFEST HAMBURG: „April“

Radikales Drama über eine Frauenärztin in Georgien, die Frauen auf dem Land bei ungewollten Schwangerschaften beisteht. 

CREDITS:
Land / Jahr: Georgien, Italien, Frankreich 2024; Laufzeit: 134 Minuten; Regie & Drehbuch: Dea Kulumbegashvili; Besetzung: Ia Sukhitashvili, Kakha Kintsurashvili, Merab Ninidze

REVIEW:
Nach ihrem brillanten „Beginning“, der 2020 in San Sebastián mit dem Regie- und dem Drehbuchpreis bedacht wurde (und in Deutschland auf Mubi zu sehen ist – Empfehlung!), war von der georgischen Filmemacherin Dea Kulumbegashvili als starke neue Stimme eines engagierten europäischen Kinos ein wirkmächtiger Nachfolgefilm zu erwarten gewesen. Dass er aber so radikal und wuchtig ausfallen würde wie „April“, der im Wettbewerb der Mostra von Venedig seine Weltpremiere feierte, gerade erst in San Sebastián mit dem Zabaltegi-Tabakalera Award ausgezeichnet wurde und in Deutschland nun erstmals auf dem Filmfest Hamburg lief, übertrifft die Hoffnungen: Eine allumfassende Welt entwirft sie, die sich authentisch und echt anfühlt, Blut, Matsch und Tränen, stets aber auch überhöht ist, als sei sie mächtigen Gemälden alter Meister entrissen, insbesondere Rembrandts „Die Anatomie des Dr. Tulp“ und „De Nachtwache“, die in der der georgischen Provinz zu Leben erweckt werden wie in einem Film von Cristian Mungiu – die Parallelen zu „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ sind augenfällig, wobei Kulumbegashvilis filmischer Ansatz kunstvoller ist. Oder was man so Leben nennt in dieser Hölle fortwährender Härten und Beschwerlichkeiten, in der sich die Hauptfigur bewegt, die Frauenärztin Nina, selbst entwurzelt und einsam, aber mit einem starken moralischen Kompass und der Fähigkeit zur Gnade.

„April“ von Dea Kulumbegashvili (Credit: Mostra Venedig)

Dargestellt wird sie von Ia Sukhitashvili, die schon in „Beginning“ die Hauptrolle gespielt hatte, aber man muss schon zweimal hinsehen, so ausgemergelt und ausgezehrt sieht sie hier aus, als würden die fortwährenden niederschmetternden Erlebnisse auf dem Land, durch das sie mit ihrem Auto oftmals ziellos fährt, nach und nach Leben aus ihrem Körper saugen. Und doch sind ihre Augen wach und altert, registriert sie alles, was um sie herum vorgeht und zu nagen versucht an ihrer Menschlichkeit. Als wir Nina erstmals sehen, befinden wir uns im Kreißsaal, mitten in einer Geburt, der man hier in einer Deutlichkeit zusieht, zusehen muss, als wäre man mit dabei: Das Baby wird schließlich in die Welt gepresst, ist aber eine Totgeburt. Die junge Mutter war nicht registriert, hatte keinerlei Gesundheitschecks, verweigerte einen Kaiserschnitt, bestand auf eine natürliche Geburt. Nun macht der Vater Nina Vorwürfe: Sie sei die falsche Ärztin gewesen, jeder wisse, dass sie bei jungen Frauen auf dem Land Abtreibungen vornehme. Was nun Ninas Vorgesetzte aktiv werden lässt, Männer allesamt selbstverständlich, einer von ihnen ein Arzt, mit dem sie vor vielen Jahren einmal eine Affäre gehabt hatte. Nina besteht darauf, alles richtig gemacht zu haben. Nun muss eine Obduktion Aufschlüsse über den Tod des Säuglings geben.

Für Nina ändert sich nichts. So sagt sie es. Weiter macht sie ihre Besuche in den Dörfern, hilft jungen Frauen. Einer 16-Jährigen, die gerade mit einem 17-Jährigen verheiratet wurde, steckt sie die Pille zu. Ein geistig zurückgebliebenes Mädchen, das sich nur mit Glucksen verständigen kann, wurde geschwängert. Man sieht Ninas Auto durch kaum befestigte Straßen fahren. Es ist April, das Wetter spielt verrückt, ein Gewitter zieht auf, eine bedrohliche Atmosphäre. Als es sich entlädt, versinkt das Land in Matsch. So streng die Kadragen auch sein mögen, so reglos und langsam die Szenen, ist „April“ doch erfüllt mit einer maßlosen Wut auf ein Land, das verharrt in seinen verkrusteten Strukturen, eine atavistische, feindselige Welt. Einmal gerät Nina in einen nächtlichen Viehmarkt, tumbe Männer starren in die Kamera, unterernährte Kühe ducken sich angstvoll weg. Das ist Georgien. 

Die ungeschnittene Schlüsselszene geht ans Eingemachte, die Abtreibung. Wie lang ist sie? Zehn Minuten? Zwölf Minuten? 15 Minuten? Sie fühlt sich endlos an, weil sie sich nicht anders anfühlen darf. Dabei ist die Mise en Scene kunstvoll arrangiert. Man sieht nichts, zumindest nichts Anzügliches, nur einen entscheidenden Ausschnitt, den Bauch des jungen Mädchens und ihre Hände, die sich verzweifelt festklammern. Danach ist Blut auf dem Plastikvorhang, auf dem die junge Frau liegen musste. Was macht das mit den Menschen, was macht das mit Nina? Gleich in der allerersten Szene sieht man eine entstellte, ihrer menschlichen Züge beraubte Kreatur, die sich unsicher vorantastet, während man auf dem Soundtrack Kinderstimmen hört und ein ruhiges Atmen. Dieses Atmen, es zieht sich durch den ganzen Film, weil so schlimm auch alles sein mag, so sehr Nina wird lernen müssen, auf der Seite der Männer zu stehen, wenn sie heil aus dieser Sache herauskommen will, was wäre schlimmer, als wenn man aufhören würde zu atmen?

Thomas Schultze